JOHANNA ÖTTL
Melinda Nadj Abonji erzählt von Erwartungen und von Menschen, die diese nicht erfüllen können oder wollen. Der Jugoslawienkrieg als Nährboden für das Scheitern und Folie für die Geschichte einer Diskriminierung.
Geboren 1983 in Linz. Literaturwissenschaftlerin und -vermittlerin in Salzburg und Wien. Derzeit Forschung am Doktoratskolleg „Kunst und Öffentlichkeit“der Universität Salzburg.
Der Roman „Schildkrötensoldat“erzählt die Geschichte von Zol-´ tan, der als Bäckerlehrling so verprügelt wurde, dass er wenig später „wie ein Mehlsack“bewusstlos vom Rücksitz des väterlichen Motorrades fällt. Dieser Tag sei, so der Vater wiederholt, der Anfang vom Ende gewesen, denn da habe bei Zoltan´ „das Zittern angefangen“. Die Sprache eines medizinischen Gutachtens beschreibt sein Verhalten als „infantil und für andere unerklärlich“. Die Geschichte seines Andersseins, seiner Einberufung in die Jugoslawische Volksarmee und seines Todes wird aus zwei Perspektiven erzählt: jener Zoltans´ und der seiner Cousine Anna, die in der Schweiz lebt. Nach dem Tod ihres Cousins fährt sie zurück in ein Zwischenland, das einmal Jugoslawien war und heute Serbien ist, um zu erkunden, wann Zoltans´ Sterben begonnen hat.
Wenn Anna zu Besuch kam, zogen sich die beiden stets in Zoltans´ Scheune im elterlichen Garten zurück, wo er in „Schachtelwelten“Fundstücke sammelte: Mohnblumenkapseln, Käferpanzer, Falter, Quarze, Schneckenhäuser. Dann ordneten die beiden stundenlang die Dinge um, ließen sie „auf Wanderschaft gehen, um herauszufinden, wo, in welcher Nachbarschaft sich die einzelnen Dinge am wohlsten fühlten und am schönsten aussahen“. So führt auch der Roman die Lebensläufe von Menschen vor, die nicht die Freiheit und die Möglichkeiten haben, sich selbst einen passenden Ort zu suchen: Abonji erzählt von Erwartungen und von Menschen, die diese nicht erfüllen können oder wollen.
Das beginnt mit den Erwartungen an Zoltans´ Zukunft, denn er hätte seinen Vater aus der sozialen Stigmatisierung „retten“sollen: Bäckermeister hätte er werden sollen, damit sein Vater „sein Zigeunerblut an meinem weißen Beruf abgewaschen“hätte. Die beiden wären dann „nicht mehr die Schienen gewesen, der Wald, der Dreck, das Vieh, Eingeweide und Hühnerfüße, die Wurzeln, gestohlenes Brennholz, Kaffeesatz und Klimbim“. Ausbruch aus der Stigmatisierung ist eine Aufgabe, die der Sohn jedoch nicht erfüllen kann; vielmehr ist auch seine Biografie die Geschichte einer Diskriminierung. Davon hätte er sich auch für die Mutter emanzipieren sollen, indem er ein Held wird, der nicht von Pflänzchen redet, sondern von „Geld, Muskeln, Titten“.
Ein Held kann er vielleicht werden, als er in die Jugoslawische Volksarmee einberufen wird. Naheliegend wäre es, Zoltan´ nun als Simplicissimus zu zeigen, als Oskar Matzerath, als Narren aus niedrigem sozialen Milieu, der einen demaskierenden Blick von unten auf den Krieg wirft. Doch Abonji unterwandert diese Erwartungen durch ihre Sprache, die den Roman souverän über jenen Fallstrick trägt, den Blick des Außenseiters als privilegierte Perspektive zu romantisieren. Auch die naheliegende Erwartung eines historischen Balkan-Romans verweigert Abonji überzeugend: Der JugoslawienKrieg ist nicht Thema, nur Nährboden für die Bewegungen der Figuren, ihre Suche, ihr Scheitern. Auf ihrer Reise zurück in das Land, das es nicht mehr gibt, liest Anna in Horvaths´ Roman „Ein Kind unserer Zeit“, der mit den Worten beginnt: „Ich bin Soldat. Und ich bin gerne Soldat – immer wieder freut es mich, in Reih und Glied zu stehen. Jetzt hat mein Dasein plötzlich wieder Sinn!“Zwischen Horvaths´ Roman und dem „Schildkrötensoldat“liegen nicht nur fast 80 Jahre, sondern auch Kriege, die sich in der Geschichte der Kaserne Zrenjanin widerspiegeln, in der Zoltan´ seinen Militärdienst leistet. Das scheinbare Glück des Soldatendaseins, das bei Horvath´ freilich nicht dauerhaft sein kann, stellt sich auch für Zol-´ tan nicht ein. In die Verhaltensvorschriften kann er sich nur schwer fügen, und er wünscht sich wiederholt, von seiner Mutter aus der Kaserne geholt zu werden. Verhaltensvorschriften sind immer auch Denkvorschriften, Wahrnehmungsmuster vom „Eige- nen“und dem „anderen“, denen sich Zoltan´ auch eine Zeit lang entziehen kann. Auf die Steuerung derartiger Denkmuster verweist die wiederholte Nennung der kroatischen Stadt Vukovar – als zukünftiger Einsatzort der Rekruten. Im historischen Kontext des Romans ist die Bedeutung Vukovars eng mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien verbunden: Bevor es 1991 in einer dreimonatigen Schlacht fast vollkommen zerstört wurde, war es Musterbeispiel für multiethnisches Zusammenleben.
In Vukovar steht noch ein Wasserturm mit Einschusslöchern; er ist in Kroatien ein ähnliches Symbol für den Krieg wie in Bosnien und Herzegowina die Brücke in Mostar. In den meisten größeren kroatischen Städten gibt es heute eine Vukovar-Straße, als Mahnmal des Krieges und der Zerstörung multiethnischer Gemeinschaft. „Achttausend Granaten täglich, das gab’s in Vukovar! Und keinen einzigen Helden!“, schleudert Anna Zoltans´ Mutter entgegen, als diese bedauert, dass ihr Sohn keinen ruhmreichen Soldatentod gestorben ist. Verstorben ist er zu Hause: Nach einem Zusammenbruch in der Kaserne wird er zuerst ins Militärkrankenhaus, dann nach Hause überstellt, wo er während eines epileptischen Anfalls erstickt.
Das zeigt, dass den Roman zwar Verweise auf die Kriege auf dem Balkan durchziehen, „Schildkrötensoldat“aber kein Kriegsroman ist: Zoltan´ erstickt allein in sozialer Abgeschiedenheit; ein Freund stirbt nicht auf dem Schlachtfeld, sondern während eines militärischen Übungsmarsches an Überanstrengung. Schließlich symbolisiert auch die Figur eines Archivars eine Rückwärtsbewegung weg vom politischen Weltgeschehen: Als Anna bei ihm Informationen über Zrenjanin einholt, erklärt er ihr seine Vorliebe für das Innere des Historischen Instituts; eigentlich müsste er nach draußen laufen, „unüberhörbar ,Halt!‘ rufen“in dem Wissen, dass die Jugoslawische Volksarmee aufmarschiert, „um sich selbst und die Menschen im eigenen Land zu töten“, wie er sagt.
Der Rückzug ins Innere bietet jedoch keine erlösende Sicherheit im eigenen Schildkrötenpanzer – das Bewusstsein der Zumutungen der Welt bleibt bestehen. In dieser Welt gibt es für keine von Melinda Nadj Abonjis Figuren einen Platz. So frei von Plattitüden und Klischees, so sprachlich und erzählerisch überzeugend hat diese Vergeblichkeit des Rückzugs selten jemand vorgeführt. Also schließe ich mit einer schlichten Empfehlung: Auf zum Buchhändler, Buch erwerben, lesen.