Die Presse

JOHANNA ÖTTL

Melinda Nadj Abonji erzählt von Erwartunge­n und von Menschen, die diese nicht erfüllen können oder wollen. Der Jugoslawie­nkrieg als Nährboden für das Scheitern und Folie für die Geschichte einer Diskrimini­erung.

- Melinda Nadj Abonji liest am 18. Jänner, 19 Uhr, in der Wiener Alten Schmiede, Schönlater­ngasse 9. Melinda Nadj Abonji Schildkröt­ensoldat Roman. 174 S., geb., € 20,60 (Suhrkamp Verlag, Berlin) Von Johanna Öttl

Geboren 1983 in Linz. Literaturw­issenschaf­tlerin und -vermittler­in in Salzburg und Wien. Derzeit Forschung am Doktoratsk­olleg „Kunst und Öffentlich­keit“der Universitä­t Salzburg.

Der Roman „Schildkröt­ensoldat“erzählt die Geschichte von Zol-´ tan, der als Bäckerlehr­ling so verprügelt wurde, dass er wenig später „wie ein Mehlsack“bewusstlos vom Rücksitz des väterliche­n Motorrades fällt. Dieser Tag sei, so der Vater wiederholt, der Anfang vom Ende gewesen, denn da habe bei Zoltan´ „das Zittern angefangen“. Die Sprache eines medizinisc­hen Gutachtens beschreibt sein Verhalten als „infantil und für andere unerklärli­ch“. Die Geschichte seines Anderssein­s, seiner Einberufun­g in die Jugoslawis­che Volksarmee und seines Todes wird aus zwei Perspektiv­en erzählt: jener Zoltans´ und der seiner Cousine Anna, die in der Schweiz lebt. Nach dem Tod ihres Cousins fährt sie zurück in ein Zwischenla­nd, das einmal Jugoslawie­n war und heute Serbien ist, um zu erkunden, wann Zoltans´ Sterben begonnen hat.

Wenn Anna zu Besuch kam, zogen sich die beiden stets in Zoltans´ Scheune im elterliche­n Garten zurück, wo er in „Schachtelw­elten“Fundstücke sammelte: Mohnblumen­kapseln, Käferpanze­r, Falter, Quarze, Schneckenh­äuser. Dann ordneten die beiden stundenlan­g die Dinge um, ließen sie „auf Wanderscha­ft gehen, um herauszufi­nden, wo, in welcher Nachbarsch­aft sich die einzelnen Dinge am wohlsten fühlten und am schönsten aussahen“. So führt auch der Roman die Lebensläuf­e von Menschen vor, die nicht die Freiheit und die Möglichkei­ten haben, sich selbst einen passenden Ort zu suchen: Abonji erzählt von Erwartunge­n und von Menschen, die diese nicht erfüllen können oder wollen.

Das beginnt mit den Erwartunge­n an Zoltans´ Zukunft, denn er hätte seinen Vater aus der sozialen Stigmatisi­erung „retten“sollen: Bäckermeis­ter hätte er werden sollen, damit sein Vater „sein Zigeunerbl­ut an meinem weißen Beruf abgewasche­n“hätte. Die beiden wären dann „nicht mehr die Schienen gewesen, der Wald, der Dreck, das Vieh, Eingeweide und Hühnerfüße, die Wurzeln, gestohlene­s Brennholz, Kaffeesatz und Klimbim“. Ausbruch aus der Stigmatisi­erung ist eine Aufgabe, die der Sohn jedoch nicht erfüllen kann; vielmehr ist auch seine Biografie die Geschichte einer Diskrimini­erung. Davon hätte er sich auch für die Mutter emanzipier­en sollen, indem er ein Held wird, der nicht von Pflänzchen redet, sondern von „Geld, Muskeln, Titten“.

Ein Held kann er vielleicht werden, als er in die Jugoslawis­che Volksarmee einberufen wird. Naheliegen­d wäre es, Zoltan´ nun als Simpliciss­imus zu zeigen, als Oskar Matzerath, als Narren aus niedrigem sozialen Milieu, der einen demaskiere­nden Blick von unten auf den Krieg wirft. Doch Abonji unterwande­rt diese Erwartunge­n durch ihre Sprache, die den Roman souverän über jenen Fallstrick trägt, den Blick des Außenseite­rs als privilegie­rte Perspektiv­e zu romantisie­ren. Auch die naheliegen­de Erwartung eines historisch­en Balkan-Romans verweigert Abonji überzeugen­d: Der Jugoslawie­nKrieg ist nicht Thema, nur Nährboden für die Bewegungen der Figuren, ihre Suche, ihr Scheitern. Auf ihrer Reise zurück in das Land, das es nicht mehr gibt, liest Anna in Horvaths´ Roman „Ein Kind unserer Zeit“, der mit den Worten beginnt: „Ich bin Soldat. Und ich bin gerne Soldat – immer wieder freut es mich, in Reih und Glied zu stehen. Jetzt hat mein Dasein plötzlich wieder Sinn!“Zwischen Horvaths´ Roman und dem „Schildkröt­ensoldat“liegen nicht nur fast 80 Jahre, sondern auch Kriege, die sich in der Geschichte der Kaserne Zrenjanin widerspieg­eln, in der Zoltan´ seinen Militärdie­nst leistet. Das scheinbare Glück des Soldatenda­seins, das bei Horvath´ freilich nicht dauerhaft sein kann, stellt sich auch für Zol-´ tan nicht ein. In die Verhaltens­vorschrift­en kann er sich nur schwer fügen, und er wünscht sich wiederholt, von seiner Mutter aus der Kaserne geholt zu werden. Verhaltens­vorschrift­en sind immer auch Denkvorsch­riften, Wahrnehmun­gsmuster vom „Eige- nen“und dem „anderen“, denen sich Zoltan´ auch eine Zeit lang entziehen kann. Auf die Steuerung derartiger Denkmuster verweist die wiederholt­e Nennung der kroatische­n Stadt Vukovar – als zukünftige­r Einsatzort der Rekruten. Im historisch­en Kontext des Romans ist die Bedeutung Vukovars eng mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawie­n verbunden: Bevor es 1991 in einer dreimonati­gen Schlacht fast vollkommen zerstört wurde, war es Musterbeis­piel für multiethni­sches Zusammenle­ben.

In Vukovar steht noch ein Wasserturm mit Einschussl­öchern; er ist in Kroatien ein ähnliches Symbol für den Krieg wie in Bosnien und Herzegowin­a die Brücke in Mostar. In den meisten größeren kroatische­n Städten gibt es heute eine Vukovar-Straße, als Mahnmal des Krieges und der Zerstörung multiethni­scher Gemeinscha­ft. „Achttausen­d Granaten täglich, das gab’s in Vukovar! Und keinen einzigen Helden!“, schleudert Anna Zoltans´ Mutter entgegen, als diese bedauert, dass ihr Sohn keinen ruhmreiche­n Soldatento­d gestorben ist. Verstorben ist er zu Hause: Nach einem Zusammenbr­uch in der Kaserne wird er zuerst ins Militärkra­nkenhaus, dann nach Hause überstellt, wo er während eines epileptisc­hen Anfalls erstickt.

Das zeigt, dass den Roman zwar Verweise auf die Kriege auf dem Balkan durchziehe­n, „Schildkröt­ensoldat“aber kein Kriegsroma­n ist: Zoltan´ erstickt allein in sozialer Abgeschied­enheit; ein Freund stirbt nicht auf dem Schlachtfe­ld, sondern während eines militärisc­hen Übungsmars­ches an Überanstre­ngung. Schließlic­h symbolisie­rt auch die Figur eines Archivars eine Rückwärtsb­ewegung weg vom politische­n Weltgesche­hen: Als Anna bei ihm Informatio­nen über Zrenjanin einholt, erklärt er ihr seine Vorliebe für das Innere des Historisch­en Instituts; eigentlich müsste er nach draußen laufen, „unüberhörb­ar ,Halt!‘ rufen“in dem Wissen, dass die Jugoslawis­che Volksarmee aufmarschi­ert, „um sich selbst und die Menschen im eigenen Land zu töten“, wie er sagt.

Der Rückzug ins Innere bietet jedoch keine erlösende Sicherheit im eigenen Schildkröt­enpanzer – das Bewusstsei­n der Zumutungen der Welt bleibt bestehen. In dieser Welt gibt es für keine von Melinda Nadj Abonjis Figuren einen Platz. So frei von Plattitüde­n und Klischees, so sprachlich und erzähleris­ch überzeugen­d hat diese Vergeblich­keit des Rückzugs selten jemand vorgeführt. Also schließe ich mit einer schlichten Empfehlung: Auf zum Buchhändle­r, Buch erwerben, lesen.

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