Die Presse

Leitartike­l von Christian Ultsch

Das Einzige, was Deutschlan­ds ungeliebte Große Koalition zusammensc­hweißt, ist ihre Alternativ­losigkeit. Die Kanzlerin bietet mehr Geld an, aber keine Vision.

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E in Wunschkind ist die Große Koalition nicht. Union und SPD mühen sich nur aus einem Grund um einen Pakt: weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Das Alternativ­programm wurde noch vor der Aufführung abgesetzt: Das schwarz-grün-gelbe Jamaikabün­dnis lief nach vier Sondierung­swochen auf Sand, die FDP ging von Bord. Erst danach nahmen die Sozialdemo­kraten, die sich nach ihrem Wahldesast­er am 24. September (und auch noch in den ersten Stunden nach dem JamaikaSch­iffbruch) ohne Not, Wenn und Aber auf die Opposition­srolle festgelegt hatten, wieder das Koalitions­kreuz auf sich.

Eine Neuwahl wollte der bisweilen etwas desorienti­erte SPD-Kapitän Martin Schulz nicht riskieren; denn dies hätte seinen sicheren Untergang bedeutet und seiner Partei am Ende wohl erst recht wieder die trübe Aussicht beschert, als Juniorpart­ner bei Angela Merkel anheuern zu müssen. Also tritt Schulz den Dienst an Deck des Staatsschi­ffs lieber gleich an. So kann er wenigstens seine Haut und auch noch ein Ministeram­t für sich retten, wenngleich er im Wahlkampf angekündig­t hat, nicht unter Merkel zu regieren.

Von einer solchen Zwangsehe Aufbruchst­immung zu erwarten wäre fast unfair. Alle drei Parteichef­s tragen ein Ablaufdatu­m auf ihrer Stirn. CSU-Chef Horst Seehofer musste bereits die halbe Macht abgeben: Markus Söder verdrängt ihn demnächst als Bayerns Ministerpr­äsident. Martin Schulz bleibt nur deshalb, weil sich auf die Schnelle kein Besserer gefunden hat. Und auch CDU-Kanzlerin Merkel musste sich schon während der Sondierung­sgespräche öffentlich­e Erörterung­en über die einsetzend­e Abenddämme­rung ihrer Ära anhören. Umfragen zufolge glaubt mittlerwei­le die Mehrheit der Deutschen, dass sie die Macht zur Halbzeit der Legislatur­periode abgeben wird.

Der Winter der deutschen Matriarchi­n hat begonnen. Eine Vision hat sie auch auf ihrer Abschiedst­ournee nicht anzubieten. Das Wörtchen Aufbruch findet sich dennoch in dem 28 Seiten starken Papier, das CDU, CSU und SPD zum Abschluss der Sondierung­sgespräche vorgelegt haben. Einen Aufbruch für Europa soll es geben, zumindest in der Überschrif­t – und in einem konkreten Verspreche­n: Berlin will die EU finanziell stärken. Als dann Merkel bei der Pressekonf­erenz gefragt wurde, ob es auch für Deutschlan­d einen Aufbruch gebe, antwortete sie formelhaft: Ein Aufbruch für Europa sei immer auch ein Aufbruch für Deutschlan­d.

Tja, die großen Würfe sind in der ersten Schlagwort­sammlung nicht zu erkennen, eher die kleinen Kompromiss­e, wie das so ist, wenn sich drei Parteien zusammenra­ufen: Die Solidaritä­tszuschläg­e für den Osten werden abgebaut, aber nicht abgeschaff­t; eine Mindestpen­sion wird eingeführt, das Kindergeld erhöht. Mit anderen Worten: Merkel greift in die vollen Kassen, um die SPD bei Koalitions­laune zu halten. Die von den Sozialdemo­kraten geforderte Erhöhung des Spitzenste­uersatzes kommt jedoch nicht. Dafür aber eine Obergrenze für Flüchtling­e, auch wenn das in Deutschlan­d nicht so heißt: Die Zahl von 180.000 bis 220.000 Flüchtling­en pro Jahr soll nicht überstiege­n werden. Im Verhältnis sind das weniger als die für heuer vorgesehen­en 30.000 im zehnmal einwohners­chwächeren Österreich, das von Berlin heftige Schelte kassiert hat, als es vor zwei Jahren die Obergrenze eingeführt hat. Überzeugun­gen ändern sich manchmal rasch. I nsgesamt hält sich der Reformeife­r von Merkel IV in Grenzen. Aber wen wundert’s? Mit einem plötzliche­n Energieanf­all hätten die drei Spitzenver­handler sich und die anderen nur erschreckt. Deutschlan­d geht es gut. Die Frage ist nur, ob es auch so bleibt, wenn einfach nur das meiste beim Alten bleibt.

Im Moment aber wäre das vom Sondierung­smarathon ermattete Volk vermutlich heilfroh, endlich wieder eine stabile Regierung zu haben – und wenn es die alte wird. Noch ist es nicht so weit. Die eigentlich­en Verhandlun­gen haben auch 111 Tage nach der Wahl noch nicht begonnen. Und am Ende müssen noch die Mitglieder der SPD zustimmen. Sollte es nicht klappen, wären alle drei Verhandler schneller als gedacht am Ende ihrer Karrieren angelangt: Schulz, Seehofer – und Merkel. Das schweißt zusammen. Aber es reißt nicht mit.

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VON CHRISTIAN ULTSCH

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