„Baby-Gangs“terrorisieren Neapel
Italien. Minderjährige ziehen durch beliebte Ausgehviertel und schlagen dort wahllos Gleichaltrige zusammen. Viele junge Neapolitaner wollen das jetzt nicht mehr hinnehmen.
Arturo wurde am helllichten Nachmittag überfallen. Der 17-Jährige schlenderte gerade die elegante Via Foria in Neapel entlang, das historische Zentrum war an diesem vorweihnachtlichem Einkaufstag von Menschen vollgepackt. Plötzlich umzingelte ihn eine Gruppe Jugendlicher. Einer fragte frech nach der Uhrzeit, forderte Arturo auf, ihm zu folgen. Der Schüler weigerte sich. Da schloss sich der Kreis enger, einer zückte ein Messer, die anderen machten es ihm nach. Dann ging alles blitzschnell: Einer stach in Arturos Hals, ein anderer in den Brustkorb – immer und immer wieder. Insgesamt zwölf Mal, an zwölf verschiedenen Stellen, stachen sie zu. Als der Jugendliche schließlich zu Boden stürzte, rannte die „Gang“davon.
Mehrere Stunden schwebte Arturo in Lebensgefahr, wochenlang verbrachte er im Krankenhaus. Seine Peiniger, die später dank Überwachungskamera-Videos identifiziert wurden, waren zwischen 12 und 15 Jahren alt.
Ähnlich wie Arturo erging es vor wenigen Tagen Gaetano: Der 15-Jährige wurde am Ausgang einer U-Bahn–Station von etwa zehn Jugendlichen angegriffen, zusammengeschlagen, getreten. Einfach so, ohne Grund – nicht einmal berauben wollte die Gang Gaetano. Dem Buben musste später die Milz wegoperiert werden. Ebenso wie bei Arturo gab es Menschen, die vorbeigingen und Zeugen der Gewalt wurden. Doch genauso wie bei Arturo schauten alle weg. „Niemand hat etwas gesagt. Diese Gleichgültigkeit war fast noch schlimmer als die Prügel und die Schmerzen“, sagte Gaetano später.
Arturo und Gaetano sind keine Ausnahmefälle. Angriffe der „Baby Gangs“– so nennen italienische Medien diese Banden – sind inzwischen fixer Bestandteil der Berichterstattung in Neapels Medien: Gestern erst wurde einem 15-Jährigen die Nase gebrochen, davor war ein Obdachloser verprügelt worden. Diese minderjährigen Prügelbanden stammen alle aus der verarmten Peripherie der süditalienischen Stadt, die in festen Händen der Lokalmafia Camorra ist. Sie ziehen in Rudeln durchs wohlhabende Zentrum, attackieren dort Gleichaltrige – manchmal um diese zu berauben, meist aber aus nackter Lust an Gewalt.
Oft sind die Täter erschre- ckend jung: In Medien zirkuliert derzeit ein Foto einer Buben-Bande in stolzer Kampfpose, die Kleinen sind mit Eisenstangen und Pistolen bewaffnet. Diese Kinder sind neun Jahre alt.
Auch wenn Baby-Gangs derzeit in Italien wieder im medialen Fokus stehen: Blutige Jugendkriminalität gehört seit jeher zur dunklen Seite der Mittelmeerstadt. Schießereien, an denen auch Kinder teilhaben, sind Teil der tristen Realität Neapels. Die Camorra setzte schon immer Kinder in „ihren“Vierteln als „Boten“, „Drogenkuriere“und auch „Soldaten“ein.
Eine erschreckende Neuentwicklung sind aber diese blinden Gewaltexzesse ohne vermeintlichen Grund. So meinen manche Experten, „Baby-Gangs“hätten nichts mit Kinderbanden zu tun, die im Dienste der Mafia stehen. Es handle sich vielmehr um Kinder aus zerrütteten, verarmten Familien, die aber meist keinen Kontakt zum Mafia-Milieu hätten. Andere lehnen diese These ab. Wer Neapel kenne, der wisse, dass sich Camorra von Jugendgewalt nur schwer trennen lasse: „Diese Generationen wachsen in einer kriminellen Subkultur auf, von der es schwierig ist zu entkommen“, sagt etwa Francesco Emilio Borrelli dem Magazin „Panorama“. Der grüne Stadtabgeordnete befasst sich seit Jahren mit dem Thema Jugendkriminalität in seiner Stadt. „Man kann sich schwer vorstellen, wie ein Kind, das bereits mit vier oder fünf Jahren Drogen geschmuggelt hat, diesem Kreislauf der Kriminalität entkommen soll.“
Rom jedenfalls hat den BabyGangs den Kampf angesagt – wieder einmal. Innenminister Marco Minniti will zusätzliche Sicherheitskräfte nach Neapel schicken. Diese sollen vor allem Stadtviertel besser sichern, in denen junge Neapolitaner gern ausgehen – und die Jugendbanden besonders häufig zuschlagen.
Genug von der Gewalt haben aber vor allem die jungen Neapolitaner. In der ganzen Stadt demonstrierten zuletzt tausende Studenten und Jugendliche gegen die Baby-Gangs: „Wir wollen keine Angst mehr haben auszugehen“, skandierten sie. „Arturo, Gaetano, ihr seid nicht mehr alleine.“Herausfordernd boten sie zumindest verbal den Jugendbanden die Stirn: „He, ihr dort! Ihr seid keine echten Neapolitaner!“, riefen sie.