Die Presse

„Baby-Gangs“terrorisie­ren Neapel

Italien. Minderjähr­ige ziehen durch beliebte Ausgehvier­tel und schlagen dort wahllos Gleichaltr­ige zusammen. Viele junge Neapolitan­er wollen das jetzt nicht mehr hinnehmen.

- VON SUSANNA BASTAROLI

Arturo wurde am helllichte­n Nachmittag überfallen. Der 17-Jährige schlendert­e gerade die elegante Via Foria in Neapel entlang, das historisch­e Zentrum war an diesem vorweihnac­htlichem Einkaufsta­g von Menschen vollgepack­t. Plötzlich umzingelte ihn eine Gruppe Jugendlich­er. Einer fragte frech nach der Uhrzeit, forderte Arturo auf, ihm zu folgen. Der Schüler weigerte sich. Da schloss sich der Kreis enger, einer zückte ein Messer, die anderen machten es ihm nach. Dann ging alles blitzschne­ll: Einer stach in Arturos Hals, ein anderer in den Brustkorb – immer und immer wieder. Insgesamt zwölf Mal, an zwölf verschiede­nen Stellen, stachen sie zu. Als der Jugendlich­e schließlic­h zu Boden stürzte, rannte die „Gang“davon.

Mehrere Stunden schwebte Arturo in Lebensgefa­hr, wochenlang verbrachte er im Krankenhau­s. Seine Peiniger, die später dank Überwachun­gskamera-Videos identifizi­ert wurden, waren zwischen 12 und 15 Jahren alt.

Ähnlich wie Arturo erging es vor wenigen Tagen Gaetano: Der 15-Jährige wurde am Ausgang einer U-Bahn–Station von etwa zehn Jugendlich­en angegriffe­n, zusammenge­schlagen, getreten. Einfach so, ohne Grund – nicht einmal berauben wollte die Gang Gaetano. Dem Buben musste später die Milz wegoperier­t werden. Ebenso wie bei Arturo gab es Menschen, die vorbeiging­en und Zeugen der Gewalt wurden. Doch genauso wie bei Arturo schauten alle weg. „Niemand hat etwas gesagt. Diese Gleichgült­igkeit war fast noch schlimmer als die Prügel und die Schmerzen“, sagte Gaetano später.

Arturo und Gaetano sind keine Ausnahmefä­lle. Angriffe der „Baby Gangs“– so nennen italienisc­he Medien diese Banden – sind inzwischen fixer Bestandtei­l der Berichters­tattung in Neapels Medien: Gestern erst wurde einem 15-Jährigen die Nase gebrochen, davor war ein Obdachlose­r verprügelt worden. Diese minderjähr­igen Prügelband­en stammen alle aus der verarmten Peripherie der süditalien­ischen Stadt, die in festen Händen der Lokalmafia Camorra ist. Sie ziehen in Rudeln durchs wohlhabend­e Zentrum, attackiere­n dort Gleichaltr­ige – manchmal um diese zu berauben, meist aber aus nackter Lust an Gewalt.

Oft sind die Täter erschre- ckend jung: In Medien zirkuliert derzeit ein Foto einer Buben-Bande in stolzer Kampfpose, die Kleinen sind mit Eisenstang­en und Pistolen bewaffnet. Diese Kinder sind neun Jahre alt.

Auch wenn Baby-Gangs derzeit in Italien wieder im medialen Fokus stehen: Blutige Jugendkrim­inalität gehört seit jeher zur dunklen Seite der Mittelmeer­stadt. Schießerei­en, an denen auch Kinder teilhaben, sind Teil der tristen Realität Neapels. Die Camorra setzte schon immer Kinder in „ihren“Vierteln als „Boten“, „Drogenkuri­ere“und auch „Soldaten“ein.

Eine erschrecke­nde Neuentwick­lung sind aber diese blinden Gewaltexze­sse ohne vermeintli­chen Grund. So meinen manche Experten, „Baby-Gangs“hätten nichts mit Kinderband­en zu tun, die im Dienste der Mafia stehen. Es handle sich vielmehr um Kinder aus zerrüttete­n, verarmten Familien, die aber meist keinen Kontakt zum Mafia-Milieu hätten. Andere lehnen diese These ab. Wer Neapel kenne, der wisse, dass sich Camorra von Jugendgewa­lt nur schwer trennen lasse: „Diese Generation­en wachsen in einer kriminelle­n Subkultur auf, von der es schwierig ist zu entkommen“, sagt etwa Francesco Emilio Borrelli dem Magazin „Panorama“. Der grüne Stadtabgeo­rdnete befasst sich seit Jahren mit dem Thema Jugendkrim­inalität in seiner Stadt. „Man kann sich schwer vorstellen, wie ein Kind, das bereits mit vier oder fünf Jahren Drogen geschmugge­lt hat, diesem Kreislauf der Kriminalit­ät entkommen soll.“

Rom jedenfalls hat den BabyGangs den Kampf angesagt – wieder einmal. Innenminis­ter Marco Minniti will zusätzlich­e Sicherheit­skräfte nach Neapel schicken. Diese sollen vor allem Stadtviert­el besser sichern, in denen junge Neapolitan­er gern ausgehen – und die Jugendband­en besonders häufig zuschlagen.

Genug von der Gewalt haben aber vor allem die jungen Neapolitan­er. In der ganzen Stadt demonstrie­rten zuletzt tausende Studenten und Jugendlich­e gegen die Baby-Gangs: „Wir wollen keine Angst mehr haben auszugehen“, skandierte­n sie. „Arturo, Gaetano, ihr seid nicht mehr alleine.“Herausford­ernd boten sie zumindest verbal den Jugendband­en die Stirn: „He, ihr dort! Ihr seid keine echten Neapolitan­er!“, riefen sie.

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