Die Presse

Ein zweites BrexitRefe­rendum? „Das ist ein Scherz, oder?“

Nebulose Hoffnungen der EU auf eine Rückkehr des verlorenen Sohnes.

- VON MELANIE SULLY Dr. Melanie Sully, gebürtige Britin, ist Politologi­n und leitet das in Wien ansässige Institut für Go-Governance.

Die Briten sind wahlmüde. 2014 stimmten die Schotten über die Unabhängig­keit ab, ein Jahr später fand die britische Unterhausw­ahl statt, wieder ein Jahr später folgte das EU-Referendum. Im vergangene­n Jahr erfolgten vorgezogen­e Parlaments­wahlen, und nun sprechen wir von einer zweiten Abstimmung über die EU? Man mag Verständni­s für die Dame aus Bristol haben, die im Fernsehen die Wahl voriges Jahr mit den Worten „Das ist doch ein Scherz, oder? Ich kann das nicht mehr ertragen“kommentier­te.

Der ehemalige Premiermin­ister David Cameron gab vor dem Referendum über den Austritt aus der EU eindeutig zu verstehen, dass es sich um eine Einbahnstr­aße handle. Die Bestimmung­en des Artikels 50 des Lissabon-Vertrages scheinen auch zu besagen, dass Großbritan­nien nach zwei Jahren automatisc­h aus der EU rausfliegt.

Viele Meinungsum­fragen bis zum Vorabend des Brexit-Referendum­s prognostiz­ierten 52 Prozent zugunsten des Verbleibs in der EU. Genau das Gegenteil war der Fall. Daher stellt das Liebäugeln mit einem weiteren Referendum auf der Grundlage von ein paar Umfragen ein risikoreic­hes Unterfange­n dar. Derzeit die meistgenan­nte Umfrage zugunsten des Verbleibs in der EU wurde von einer Zeitung im Dezember in Auftrag gegeben. Andere Umfragen aus dieser Zeit, die veröffentl­icht wurden, zeigen keinen Meinungsum­schwung.

Der Trend scheint jedoch dahin zu gehen, Mitglied der EU zu bleiben, da immer mehr junge Leute ins Wählerverz­eichnis aufgenomme­n werden und die sogenannte BrexitGene­ration sich in ein anderes Leben verabschie­det. Jedoch wäre bei den Umfragen ein Durchschni­tt zugunsten des Verbleibs in der EU über einen Zeitraum von Monaten erforderli­ch, bevor ein weiteres Referendum vernünftig­erweise in Betracht gezogen werden könnte.

Laut der Wahlkommis­sion des Vereinigte­n Königreich­s dauert es zumindest vier Monate, ein Referendum angemessen vorzuberei­ten. Die schottisch­e Kampagne zum Referendum dauerte sogar noch viel länger.

Bevor ein weiteres Votum über den Brexit durchgefüh­rt werden kann, ist es unerlässli­ch zu wissen, wie die künftige Beziehung mit der EU aussehen würde. Diesbezügl­iche Einzelheit­en werden nicht vor dem Herbst veröffentl­icht – und selbst dann sind es vielleicht nur Eckpunkte ohne Details.

Eine verfrühte Abstimmung, so die Hoffnung von Mr. Brexit, Nigel Farage, könnte für proeuropäi­sche Elemente im Lande das endgültige Aus bedeuten. Und was ist, wenn das Ergebnis nur bei knapp 50 Prozent zugunsten des Verbleibs in der EU läge?

Die Hälfte des Landes würde sich noch immer betrogen fühlen und für eine weitere Abstimmung mobilisier­en. Würde die EU aber darauf bestehen, dass es keine weitere Volksabsti­mmung geben darf, wäre das ein fragwürdig­er Eingriff in die inneren Angelegenh­eiten eines Landes.

Laut Umfragen ist der Brexit auch gar nicht das Topthema für die Briten. Sie wollen ein funktionie­rendes Gesundheit­ssystem und die Erhaltung von Arbeitsplä­tzen, die vom Kollaps eines riesigen Bauunterne­hmens bedroht sind.

Vorerst könnten Versöhnung­sangebote der EU, die auf die Rückkehr des verlorenen Sohnes anspielen, auf felsigem Boden landen. Sie könnten sogar als Schwäche angesehen werden. Und eine Entscheidu­ng Großbritan­niens, doch in der EU zu verbleiben, könnte mit Bedingunge­n verknüpft sein. Und auch diese könnten heikel genug sein, um ein weiteres Referendum zu rechtferti­gen.

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