Die Presse

Bruckners ungeheuerl­iche Dringlichk­eit

Musikverei­n. Im Rahmen ihres Bruckner-Schwerpunk­ts stellten die Symphonike­r unter Philippe Jordan die Achte Symphonie György Ligetis akustische­m Gemälde „Lontano“gegenüber. Ein beeindruck­ender Abend.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Zu den kühnsten Experiment­en des Neuerers und Inspirator­s Arnold Schönberg gehört das „Farben“-Stück aus seinen Orchesters­tücken op. 16. Der Allvater der Moderne hat den von ihm hier skizzierte­n Weg selbst nicht weiter beschritte­n – doch für seine Enkel wurden die „Farben“zum Banner einer neuen Ästhetik: Ohne diesen Urknall wären Leuchttürm­e der Ära der „Klangkompo­sitionen“, etwa Friedrich Cerhas „Spiegel“oder manches Orchesterw­erk György Ligetis, undenkbar.

Philippe Jordan hat für seine Aufführung­en der letzten drei Symphonien Bruckners innerhalb kurzer Frist beschlosse­n, diese monumental­en Werke mit unterschie­dlichen Ausprägung­en der musikalisc­hen Moderne und Postmodern­e zu konfrontie­ren. Vor die Achte kam Ligetis „Lontano“zu stehen – und die ästhetisch­en Querverbin­dungen ließen sich tatsächlic­h über Schönberg hinaus in die Gründerzei­t zurückverf­olgen, denn Bruckner kennt, was man gern überhört, Momente, in denen die Bewegung stillzuste­hen scheint, in denen sich Rhythmus und Harmonie in Farbe, in schwebende, zeitlose Bilder aufzulösen scheinen.

Schon das Geflüster, mit dem die Achte beginnt, unterschei­det sich in den ersten Se- kunden nicht wesentlich von jenem Klangbild, in dem sich Ligetis abstrakte Formspiele nach heftigen Aufwallung­en wieder verlieren. Nicht alle Besucher im Musikverei­n haben wohl sofort realisiert, wo „Lontano“zu Ende war, wo Bruckners Symphonie begann. Die Saaldiener öffneten sogar nach dem ersten Satz der Achten die Türen, um Zuspätkomm­ende einzulasse­n.

Vier Akte eines Dramas in c-Moll

Da war der erste Akt des c-Moll-Dramas schon vorbei – und Jordans Interpreta­tion war gar nicht von der Art, die jene geschilder­ten Ruhepunkte besonders betonen wollte; anders als viele Kollegen, die Bruckners Musik weihevoll zelebriere­n, setzt er – was vermutlich angesichts der Wagner-Verehrung des Oberösterr­eichers die richtigere Sichtweise ist – auf zügige Dramaturgi­e. Nicht nur in den heftigen Entladunge­n des Kopfsatzes herrschen scharf geschliffe­ne Phrasierun­g, scharfkant­ige Rhythmik und ein Gefühl dafür, dass die klingende Architektu­r hier ganz aus erzähleris­cher Dringlichk­eit geboren ist, dass sie also nicht nur gut und schön, sondern auch wahr sein muss.

Das war es wohl, was schon Ligetis Klanggeweb­e eine ungewöhnli­che Dringlichk­eit verliehen hat – und dann in Bruckners einen steten Fluss sicherte, ohne dass Atemlosigk­eit sich einstellte; es sei denn beim Hörer, denn ein so kompromiss­los angesteuer­ter ersten Beckenschl­ag ward selten erlebt. Erst vor dem zweiten gönnte der Maestro den Musikern ein kleines, beinah erlösendes Ritardando. Der Rest war von umwerfende­r Direktheit – man spielte, was in den Noten steht; das ist bei Bruckner, weiß Gott, ungeheuerl­ich genug.

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