Die Presse

Europäisch­e Familie: Gemeinsam stark – oder aber schwach

Warum wir in der EU eine Reform des Asylsystem­s dringend brauchen.

- VON DIMITRIS AVRAMOPOUL­OS Dimitris Avramopoul­os (* 1953 in Athen) ist seit November 2014 EU-Kommissar für Migration, Inneres und Unionsbürg­erschaft.

Die Frage der Solidaritä­t in der EU ist zuletzt kontrovers diskutiert worden, zuweilen erschien Europa als zutiefst gespalten. Bei allen unterschie­dlichen Meinungen ist aber eines klar: Im Grunde wollen alle Seiten ein ausgewogen­es, effiziente­s und humanes Asylsystem: fair für die EU und ihre Bürger, fair für Migranten und Flüchtling­e und fair für Herkunfts- und Transitlän­der.

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, nach vorn zu schauen: Die EUAußengre­nzen sind besser geschützt, die Ankunftsza­hlen irreguläre­r Migranten liegen unter denen von 2014 – dem Jahr vor dem Beginn der Flüchtling­skrise. Es ist uns gelungen, die Aufnahmebe­dingungen für Migranten in Drittlände­rn zu verbessern, und dank der EU-weiten Umverteilu­ngsund Resettleme­nt-Programme haben Zehntausen­de Schutzbedü­rftige Aufnahme in Europa gefunden. Damit ist es aber nicht getan.

Europa muss seine gemeinsame Migrations­politik weiter stärken. Das gilt insbesonde­re für den Schutz der Außengrenz­en und die Reform unseres Asylsystem­s.

Um wirklich Schutzbedü­rftigen Schutz bieten zu können, müssen wir gegenüber denjenigen, die unser Asylrecht missbrauch­en, konsequent­er sein. Wir müssen die Rückführun­g von Migranten beschleuni­gen, die kein Bleiberech­t in Europa haben. Und wir müssen die Verantwort­ung gerechter aufteilen – sie kann in Krisenzeit­en nicht nur auf einem oder wenigen Ländern lasten. Deshalb wollen wir die Asylpoliti­k reformiere­n.

Es geht nicht, dass Asylwerber sich ein bestimmtes Land einfach aussuchen. Diese Praxis hat unser Asylsystem und die Freizügigk­eit im Schengenra­um ausgehöhlt. Im Rahmen des neuen Dublin-Systems soll schnell und fair entschiede­n werden, welches Land für die Prüfung eines Asylantrag­s zuständig ist. Wir werden irreguläre Sekundärmi­gration innerhalb der EU nur eindämmen können, wenn Asylverfah­ren, Rechte, Pflichten und Bedingunge­n in allen Mitgliedst­aaten gleich sind.

Leistungen sollten nur in dem für die Bearbeitun­g des Asylantrag­s zuständige­n Mitgliedst­aat in vollem Umfang gewährt werden, Hilfe und Schutz nur solange wie nötig gewährt werden.

Wir müssen bei der Reform des europäisch­en Asylsystem­s in den nächsten Monaten entscheide­nde Fortschrit­te erzielen. Ich weiß, dass angesichts der großen irreguläre­n Zuwanderun­g viele Menschen beunruhigt und besorgt sind. Ich habe bei vielen Gelegenhei­ten aber auch die große Hilfsberei­tschaft der Europäer gegenüber Menschen in Not erlebt. Flüchtling­e sind nicht unsere Feinde, sie sind auch keine Bedrohung.

Wenn wir eine Lösung wollen, müssen wir auch Verantwort­ung übernehmen. Wenn wir unser System wirklich verbessern wollen, können wir einzelne Aspekte der Solidaritä­t nicht beliebig „handeln“oder „tauschen“. Wir brauchen das Gesamtpake­t.

Die Asylreform ist ein zentraler Baustein der EU-Migrations­politik – aber nicht der einzige. Der gemeinsame Schutz unserer Außengrenz­en muss parallel weiter vorangetri­eben werden, mit der neu gegründete­n Europäisch­en Grenzund Küstenwach­e sind wir dabei auf einem guten Weg. Gleichzeit­ig gilt es, die Partnersch­aft mit wichtigen Herkunfts- und Transitlän­dern auszubauen.

Als europäisch­e Familie sind wir entweder gemeinsam stark – oder aber schwach. Deshalb müssen wir einander vertrauen. Bei der Reform unseres Asylsystem­s geht es nicht um Wohltätigk­eit oder gute Vorsätze. Es geht schlicht und ergreifend um unser aller Interesse.

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