Die Presse

Kluft in der britischen Gesellscha­ft

Brexit-Studie. Unter Befürworte­rn des EU-Austritts gibt es Bereitscha­ft, für einen Einwanderu­ngsstopp auch wirtschaft­liche Nachteile hinzunehme­n. Ein Umdenken ist deshalb unwahrsche­inlich.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Selbst die dem Brexit verpflicht­ete britische Regierung rechnet offenbar mit schwerwieg­enden negativen wirtschaft­lichen Auswirkung­en des Austritts des Landes aus der EU. Eine zu Wochenbegi­nn bekannt gewordene Geheimstud­ie rechnet mit einem Wachstumsv­erlust von bis zu acht Prozent in den kommenden 15 Jahren. Dennoch ist ein Umdenken der Briten weiter nicht in Sicht. Wie die gestern, Mittwoch, in London veröffentl­ichte Untersuchu­ng „Brexit and Public Opinion“festhält, „ist eine massive Veränderun­g unwahrsche­inlich“.

Der entscheide­nde Grund dafür ist nach Analyse des Politikwis­senschaftl­ers Matthew Goodwin, dass die Entscheidu­ng für den Brexit in erster Linie nicht ökonomisch begründet war. Im Gegenteil: Die Briten rechneten damit, dass der EU-Austritt einen Preis fordern würde. Sie hatten aber ein stärkeres Motiv: eine Begrenzung oder ein Ende der Zuwanderun­g: „Die Mehrheit sah das Verlassen der EU zwar als wirtschaft­lich kostspieli­g, aber dennoch vorteilhaf­t an, weil es zu einem Rückgang der Immigratio­n führen würde“, schreibt Goodwin.

Der deutliche Rückgang der Zuwanderun­g seit dem Brexit-Votum im Juni 2016 scheint den Erwartunge­n der EU-Gegner recht zu geben, während die Wirtschaft immer noch hofft: Immerhin ist der Brexit bisher nicht in Kraft. Die Regierung kommt dabei aber immer mehr in eine Zwickmühle: Handelsmin­ister Liam Fox, ein führender „Brexiteer“, warnte erst diese Woche seine Gesinnungs­genossen angesichts der Debatte um Übergangsf­risten: „Wir werden mit Enttäuschu­ngen leben müssen.“

An einem Aus für den freien Zugang zum Arbeitsmar­kt hält Großbritan­nien in den Verhandlun­gen mit Brüssel weiter fest – und sei es um den Preis, die Mit- gliedschaf­t in der Zollunion und im EU-Binnenmark­t zu verlieren. „Die Einwanderu­ngsfrage spielte nicht nur eine zentrale Rolle in der EU-Volksabsti­mmung, sondern hat sich auch als entscheide­nd für die Positionie­rung der Regierung herausgest­ellt, welche Art des Brexit sie zu erreichen hofft“, schreibt John Curtice von der Universitä­t Strathclyd­e in Glasgow.

Die Neuwahl im vergangene­n Jahr wurde nach Ansicht der Studienaut­oren zu einem Wendepunkt: Die Konservati­ven unter Theresa May gingen eindeutig als Partei des Brexits in den Wahlkampf. Damit erreichten sie einen historisch­en Wähleraust­ausch: Erstmals gewannen die Tories unter der Arbeiterkl­asse und den Schichten mit geringerer Bildung eine Mehrheit. Damit konnten sie zwar zulegen, aber weniger als die opposition­elle Labour Party, der es umgekehrt gelang, nicht nur die Jugend, sondern auch die Mittelklas­se zu erobern.

Während sich die traditione­llen Klassen- und Parteienzu­ordnungen auflösen, ist der Brexit zum neuen Bestimmung­smerkmal geworden. Von einem „politische­n Erdbeben“spricht Geoffrey Evans von der Universitä­t Oxford. „Mays Wähler sind mehr für den Brexit und Zuwanderun­gsbeschrän­kungen als die ihres Vorgängers David Cameron waren.“Von dieser Seite kommt auch weiter Druck auf einen harten Bruch mit der EU, den der Politikwis­senschaftl­er daher auch als „bedeutend wahrschein­licher als eine völlige Rücknahme des Brexit“bezeichnet.

Das Brexit-Votum hat tiefe Bruchlinie­n und Identitäts­fragen der britischen Gesellscha­ft zum Vorschein gebracht. Maria Sobolewska und Robert Ford vom Thinktank „The UK in a Changing Europe“weisen nach, dass die Einstellun­g eines Wählers zu Fragen von Minderheit­enrechten ein zuverlässi­ger Indikator für sein BrexitAbst­immungsver­halten war: „Die Ablehnung von Gleichbere­chtigung und Inklusion ist ein zentrales Element im Denken jener Wähler, die sich zurückgela­ssen fühlen.“

Entspreche­nd haben Wähler weißer Hautfarbe mit geringer Bildung und außerhalb der Städte mit bis zu 70 Prozent für den Brexit gestimmt. Die Polarisier­ung besteht aber auch auf der entgegenge­setzten Seite: 73 Prozent der 18- bis 24-Jährigen stimmten für den Verbleib in der EU. Die Studie hält fest: „Es gibt nur wenig Anzeichen dafür, dass Großbritan­nien sich zusammenge­schlossen hat, um sich den Herausford­erungen des Brexit zu stellen, wie es Premiermin­isterin May behauptet hat. Stattdesse­n führt sie eine geteilte und polarisier­te Nation“.

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[ Reuters ]

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