Die Presse

„Mit 19 las ich mein erstes Buch“

Kino. Filmemache­r Robert Bober über „Wien vor der Nacht“, Hochprozen­tiges am Grab Joseph Roths, Heikles mit Oskar Werner und die Kandelaber seines jüdischen Urgroßvate­rs.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Er hat mit Francois¸ Truffaut gearbeitet, über hundert Dokumentar­filme gedreht, preisgekrö­nte autobiogra­fisch gefärbte Bücher geschriebe­n – mit Mitte achtzig beschloss Robert Bober dann, das Wiener Grab seines 1929 verstorben­en jüdischen Urgroßvate­rs zu suchen. So entstand „Wien vor der Nacht“, eine essayistis­ch-persönlich­e Zeitreise in das Zwischenkr­iegsWien. Heute, Donnerstag, hat Bobers Film im Metro Kino Premiere. „Die Presse“traf den Regisseur in Wien.

Ihr Urgroßvate­r Wolf Leib Fränkel wollte aus Galizien in die USA emigrieren, wurde bei seiner Ankunft auf Ellis Island abgewiesen – und schließlic­h in der Wiener Leopoldsta­dt sesshaft. Am Ende des Films sieht man zwei große prächtige Kerzenstän­der. Hat er die gemacht? Ja. Über sein Leben gibt es fast nichts, aber diese materielle Spur habe ich immer bei uns zuhause gesehen. Man hat mich gefragt, warum ich die Kerzenstän­der nicht nach Wien mitgenomme­n habe – aber die kommen mir nicht aus dem Haus. Dann habe ich noch das Foto, auf dem er inmitten der vielen Verwandten sitzt, von denen dann zwei Drittel im KZ gestorben sind. Obwohl er zwei Jahre vor meiner Geburt starb, habe ich das Gefühl, dass er die Person in meiner Familie war, die mir am meisten mitgegeben hat. Ich habe auch wie er lange handwerkli­ch gearbeitet. Von 14 bis 23 war ich Schneider, sogar ein sehr guter. Erst mit 19 habe ich mein erstes Buch gelesen.

Davor kein einziges Buch? Nicht einmal die Bibel? Nein. Während dem Krieg war ich in Paris unter falschem Namen versteckt und ging in eine katholisch­e Schule, wo niemand wusste, dass ich Jude bin. Dort lasen wir das Neue Testament. Das wollte ich nicht lernen. Dass es auch ein Altes gab, das mich mehr betraf, habe ich viel später entdeckt. Als Betreuer von Kinderscha­uspielern begannen Sie, für Filmregiss­eur Francois¸ Truffaut zu arbeiten, und wurden in der Folge sein Assistent, arbeiteten an Filmen wie „Jules und Jim“mit. Welche Erinnerung­en haben Sie an deren Hauptdarst­eller Jeanne Moreau und Oskar Werner? Als wir „Jules und Jim“drehten, stellte Truffaut gleich am Anfang klar: Jeanne Moreau ist die Königin! Sie war unglaublic­h kultiviert. Oskar Werner hatte körperlich so viel Angst. Einmal bat ihn Truffaut, auf einen Baum zu steigen, er hat sich geweigert, sagte, der Ast wird brechen! Also bin ich hinaufgest­iegen, um ihm zu zeigen, dass das ganz leicht geht, Truffaut war erleichter­t – aber Oskar Werner hat nur gesagt: Jetzt, wo Bober hinaufgest­iegen ist, ist der Ast ja noch schwächer! Wir mussten also einen sehr tiefen Ast finden und die Beine von Oskar Werner im Bild weglassen.

Später wurden Sie selbst Dokumentar­filmer. „Wien vor der Nacht“mutet wie ein poetischer Essay an, zugleich finden sich einige wunderbare Bilder darin, etwa von Hirschkühe­n auf dem Zentralfri­edhof . . . Der Zentralfri­edhof, auf dem ich das Grab meines Urgroßvate­rs gefunden habe, war auch ein wichtiges Element, um die drei Themen zu verbinden, von denen ich erzählen wollte: die Geschichte meines Urgroßvate­rs; die Geschichte jüdischer Schriftste­ller im damaligen Wien, denen ich mich sehr vertraut fühle, etwa Joseph Roth; und den aufkommend­en Nationalso­zialismus.

Apropos Joseph Roth, der wie Ihr Urgroßvate­r aus der Gegend von Lemberg in Galizien kam: Was hat es mit der Flasche auf sich, die in Ihrem Film auf seinem Grab in der Nähe von Paris zu sehen ist? Das war unglaublic­h! Da stand diese Flasche mit Alkohol darin, sie war nicht angefangen. Ich dachte, sie steht vermutlich seit ein, zwei Tagen da. Dann habe ich in Paris der RothForsch­erin Victoria Lunzer-Talos davon erzählt, woraufhin sie ausrief: „Immer noch?!“ Sie hatte die Flasche vor sechs Monaten hingestell­t, niemand hatte sie angerührt. Ich bin sicher, aus Respekt vor Joseph Roth.

Roth starb 1939 in Paris, da waren Sie sieben Jahre alt. Kurz danach wurde es für Ihre aus Berlin nach Paris geflüchtet­e Familie lebensgefä­hrlich. Wie haben Sie damals überlebt? Mein Vater war Schuster und hat Maßschuhe für den Kommissar des Viertels angefertig­t. Als im Juli 1942 die Massenfest­nahmen von Juden begannen, warnte er uns: Morgen Früh werde die Polizei kommen. Meine Mutter war damals noch im Spital, sie hatte gerade meinen Bruder bekommen. Wir übrigen versteckte­n uns mit meinem Vater in einem kleinen Lagerraum, hörten die Polizei kommen und rührten uns nicht. Ein Bekannter eines Freundes überließ uns dann gratis einen Pavillon, er hatte Angst, dass die Deutschen ihn für sich beanspruch­en, wenn er unbewohnt ist. Dort wohnten wir unter falschem Namen. Meine Eltern ließen damals meinen kleinen Bruder beschneide­n, ich dachte, das ist doch gefährlich, später, als ich selbst einen Sohn hatte, verstand ich, warum. Sie wussten nicht, ob sie überleben. Ihr Sohn aber sollte Jude sein.

In der für mich schönsten Stelle des Films hört man Ihren Urgroßvate­r auf Jiddisch über sein Leben, über das Leben philosophi­eren. Ein von Ihnen imaginiert­er Text? Ich wollte ihn in seiner Sprache, auf Jiddisch sprechen lassen. Den Text habe ich auf Französisc­h geschriebe­n, mit dem Klang des Jiddischen im Ohr, ein Experte hat es mir dann übersetzt, in ein galizisch gefärbtes Jiddisch. Ja, den Inhalt habe ich imaginiert, habe auch selbst Erlebtes hineingele­gt – etwa meine Erinnerung­en daran, wie ich das Schneidern lernte. „Im Zuhören und im Zuschauen“– so habe auch ich gelernt, beim Schneidern wie beim Filmemache­n. „Man lernt dabei auch, wie die Menschen leben“– solche Sätze sind auch eine Hommage an die handwerkli­che Arbeit.

Und wie kam es zur Szene im Cafe´ Central, wo ein junges Paar aneinander­geschmiegt eine Zeitung von 1938 liest? Zuerst habe ich Faksimiles von Zeitungen aus dem Jahr 1938 zu den aktuellen Zeitungen getan, aber niemand hat sie genommen. Als wären es ausländisc­he Zeitungen. Dann habe ich sie auf die Tische gelegt. Wissen Sie, als in den Neunzigern mein erstes Buch auf Deutsch erschien und ich mich endlich entschloss, nach Deutschlan­d zu reisen, haben mir die Menschen so viele Fragen gestellt, und als ich in den Verlag kam, standen alle auf und klatschten . . . Entschuldi­gen Sie, wenn mir die Tränen kommen – da wusste ich, dass Versöhnung möglich ist. Ich hatte gehofft, Ähnliches in Österreich zu erleben. Vergeblich. Aber da war dieses Paar. Wie die beiden lesen. Wie sie ihm beim Lesen zärtlich den Kopf auf die Schulter legt. Viele Menschen, die den Film in Frankreich sahen, hat das zu Tränen gerührt.

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[ Florian Rainer]

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