Die Presse

Machtkampf der Visegr´ad-Länder

Analyse. Die osteuropäi­schen Regierunge­n forcieren eine reduzierte EU individuel­ler Nationen. Eine Haltung, die Paris, Berlin, EU-Kommission und Europaparl­ament strikt ablehnen.

- VON WOLFGANG BÖHM

Lang schien es ihnen nur um den Widerstand gegen die Aufteilung von Flüchtling­en in allen Mitgliedst­aaten zu gehen. Doch die Visegrad-´Länder wollen mittlerwei­le mehr. Sie forcieren mit dem Rückenwind rechter politische­r Kräfte im Westen ein Europa der Nationen, das individuel­l genutzt werden kann und das keinen Einfluss mehr auf die Regierungs­politik der Mitgliedst­aaten nimmt. Dieses Modell steht diametral dem entgegen, was Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron und die sich neu formierend­e Koalition in Berlin propagiere­n. Sie drängen auf eine finanziell und machtpolit­isch gestärkte Union, die es mit globalen Konkurrent­en wie den USA oder China aufnehmen kann. Frankreich und Deutschlan­d treten für eine stärkere wirtschaft­s-, fiskal- und währungspo­litische Koordinier­ung und Überwachun­g aller Mitgliedst­aaten ein. Die Visegrad-´Länder wollen eine EU, die weniger Verpflicht­ungen umfasst und die nur dann aktiv wird, wenn das wirklich alle wollen.

Diese Haltung bringe die Gefahr einer „Spaltung nicht nur in Sachfragen, sondern in Bezug auf das Fundament der europäisch­en Einigung“mit sich, warnt der langjährig­e deutsche Europaabge­ordnete Jo Leinen (SPD). Er verweist auf eine gemeinsame Erklärung der Regierungs­chefs von Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn, mit der die Visegrad-´Länder vergangene Woche noch einmal Öl ins Feuer des innereurop­äischen Konflikts gegossen haben. Sie forderten darin, dass Brüssel keinen Einfluss mehr auf „innenpolit­ische Reformen“nehmen dürfe. Gergely Gulyas,´ Fraktionsc­hef des Fidesz im ungarische­n Parlament, setzte diese Woche nochmals nach: „Wenn westeuropä­ische Regierunge­n glauben, sie könnten ein Rechtsstaa­tsverfahre­n gegen osteuropäi­sche Länder führen, wird das die EU zerstören.“

Ungeachtet der Charmeoffe­nsive, die Ungarns Ministerpr­äsident Viktor Orban´ diese Woche in Wien gestartet hat, tritt in Brüssel der Konflikt der vier Länder mit EUKommissi­on und Europaparl­ament immer deutlicher zutage. Nach erfolglose­n Versuchen, die polnische Regierung zur Rücknahme jener umstritten­en Gesetze zu bewegen, die der rechtsnati­onalen PiS-Führung Einfluss auf die Bestellung und Absetzung von Richtern gibt, will die EU-Kommission das Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen Warschau scharf stellen. Auch im Europaparl­ament verstärkt sich der Druck gegen einzelne Visegrad-´Regierunge­n. Der zuständige Ausschuss hat sich bereits für ein Verfahren gegen Polen nach Artikel 7 des EU-Vertrags (Verstoß gegen Grundwerte) ausgesproc­hen. Der Innenaussc­huss befasst sich indessen mit einem ähnlichen Verfahren gegen Ungarn.

ÖVP-Europaabge­ordneter Othmar Karas sprach sich Mittwochab­end in Wien für eine härtere Linie gegenüber den Visegrad-´Regierunge­n aus: „Wenn wir keinen Sanktionsm­echanismus bekommen, der glaubwürdi­g ist [. . .] und der die Täter und Blockierer zur Rechenscha­ft zieht, verliert die EU Glaubwürdi­gkeit und Vertrauen beim Bürger.“Der deklariert­e Proeuropäe­r sprach damit vor allem die Weigerung der Visegrad-´Regierunge­n an, einen in der EU gemeinsam getroffene­n Beschluss zur solidarisc­hen Aufnahme von Flüchtling­en aus Italien und Griechenla­nd umzusetzen.

Den EU-Abgeordnet­en geht es aber nicht nur um konkrete Blockaden, Verfehlung­en oder Maßnahmen dieser Regierunge­n, mit denen sie politische­n Einfluss auf Justiz, Medien, NGOs und Universitä­ten ausüben, sondern um eine Unterwande­rung der europäisch­en Demokratie. Die vier Regierungs­chefs aus Warschau, Prag, Bratislava und Budapest sind in ihrer gemeinsame­n Erklärung nämlich auch offen für eine übergeordn­ete Entscheidu­ngsmacht der Staats- und Regierungs­chefs in der EU eingetrete­n. Sie wollen, dass die wichtigste­n Fragen nur noch auf oberster Ebene entschiede­n werden. Denn bei EU-Gipfeltref­fen gilt im Gegensatz zum normalen Gesetzgebu­ngsverfahr­en der Union durch EU-Rat (Ministertr­effen) und dem EU-Parlament das Einstimmig­keitsprinz­ip. Jeder Regierungs­chef hat also ein Vetorecht. Außerdem treten die vier für ein kleineres und mit weniger Macht ausgestatt­etes Europaparl­ament ein. „Was hier gefordert wird, ist ein Europa der Regierungs­chefs, die Entscheidu­ngen im kleinen Kreis und ohne parlamenta­rische Kontrolle treffen“, kritisiert Leinen. „Die Visegrad-´Regierunge­n ignorieren die demokratis­che Struktur der Europäisch­en Union und die Rolle des Europäisch­en Parlaments als gleichbere­chtigter Gesetzgebe­r.“

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[ AFP ]

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