Machtkampf der Visegr´ad-Länder
Analyse. Die osteuropäischen Regierungen forcieren eine reduzierte EU individueller Nationen. Eine Haltung, die Paris, Berlin, EU-Kommission und Europaparlament strikt ablehnen.
Lang schien es ihnen nur um den Widerstand gegen die Aufteilung von Flüchtlingen in allen Mitgliedstaaten zu gehen. Doch die Visegrad-´Länder wollen mittlerweile mehr. Sie forcieren mit dem Rückenwind rechter politischer Kräfte im Westen ein Europa der Nationen, das individuell genutzt werden kann und das keinen Einfluss mehr auf die Regierungspolitik der Mitgliedstaaten nimmt. Dieses Modell steht diametral dem entgegen, was Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die sich neu formierende Koalition in Berlin propagieren. Sie drängen auf eine finanziell und machtpolitisch gestärkte Union, die es mit globalen Konkurrenten wie den USA oder China aufnehmen kann. Frankreich und Deutschland treten für eine stärkere wirtschafts-, fiskal- und währungspolitische Koordinierung und Überwachung aller Mitgliedstaaten ein. Die Visegrad-´Länder wollen eine EU, die weniger Verpflichtungen umfasst und die nur dann aktiv wird, wenn das wirklich alle wollen.
Diese Haltung bringe die Gefahr einer „Spaltung nicht nur in Sachfragen, sondern in Bezug auf das Fundament der europäischen Einigung“mit sich, warnt der langjährige deutsche Europaabgeordnete Jo Leinen (SPD). Er verweist auf eine gemeinsame Erklärung der Regierungschefs von Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn, mit der die Visegrad-´Länder vergangene Woche noch einmal Öl ins Feuer des innereuropäischen Konflikts gegossen haben. Sie forderten darin, dass Brüssel keinen Einfluss mehr auf „innenpolitische Reformen“nehmen dürfe. Gergely Gulyas,´ Fraktionschef des Fidesz im ungarischen Parlament, setzte diese Woche nochmals nach: „Wenn westeuropäische Regierungen glauben, sie könnten ein Rechtsstaatsverfahren gegen osteuropäische Länder führen, wird das die EU zerstören.“
Ungeachtet der Charmeoffensive, die Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban´ diese Woche in Wien gestartet hat, tritt in Brüssel der Konflikt der vier Länder mit EUKommission und Europaparlament immer deutlicher zutage. Nach erfolglosen Versuchen, die polnische Regierung zur Rücknahme jener umstrittenen Gesetze zu bewegen, die der rechtsnationalen PiS-Führung Einfluss auf die Bestellung und Absetzung von Richtern gibt, will die EU-Kommission das Vertragsverletzungsverfahren gegen Warschau scharf stellen. Auch im Europaparlament verstärkt sich der Druck gegen einzelne Visegrad-´Regierungen. Der zuständige Ausschuss hat sich bereits für ein Verfahren gegen Polen nach Artikel 7 des EU-Vertrags (Verstoß gegen Grundwerte) ausgesprochen. Der Innenausschuss befasst sich indessen mit einem ähnlichen Verfahren gegen Ungarn.
ÖVP-Europaabgeordneter Othmar Karas sprach sich Mittwochabend in Wien für eine härtere Linie gegenüber den Visegrad-´Regierungen aus: „Wenn wir keinen Sanktionsmechanismus bekommen, der glaubwürdig ist [. . .] und der die Täter und Blockierer zur Rechenschaft zieht, verliert die EU Glaubwürdigkeit und Vertrauen beim Bürger.“Der deklarierte Proeuropäer sprach damit vor allem die Weigerung der Visegrad-´Regierungen an, einen in der EU gemeinsam getroffenen Beschluss zur solidarischen Aufnahme von Flüchtlingen aus Italien und Griechenland umzusetzen.
Den EU-Abgeordneten geht es aber nicht nur um konkrete Blockaden, Verfehlungen oder Maßnahmen dieser Regierungen, mit denen sie politischen Einfluss auf Justiz, Medien, NGOs und Universitäten ausüben, sondern um eine Unterwanderung der europäischen Demokratie. Die vier Regierungschefs aus Warschau, Prag, Bratislava und Budapest sind in ihrer gemeinsamen Erklärung nämlich auch offen für eine übergeordnete Entscheidungsmacht der Staats- und Regierungschefs in der EU eingetreten. Sie wollen, dass die wichtigsten Fragen nur noch auf oberster Ebene entschieden werden. Denn bei EU-Gipfeltreffen gilt im Gegensatz zum normalen Gesetzgebungsverfahren der Union durch EU-Rat (Ministertreffen) und dem EU-Parlament das Einstimmigkeitsprinzip. Jeder Regierungschef hat also ein Vetorecht. Außerdem treten die vier für ein kleineres und mit weniger Macht ausgestattetes Europaparlament ein. „Was hier gefordert wird, ist ein Europa der Regierungschefs, die Entscheidungen im kleinen Kreis und ohne parlamentarische Kontrolle treffen“, kritisiert Leinen. „Die Visegrad-´Regierungen ignorieren die demokratische Struktur der Europäischen Union und die Rolle des Europäischen Parlaments als gleichberechtigter Gesetzgeber.“