Die Presse

So historisti­sch kann (und darf ) Jazz heute sein

Konzerthau­s. Das Jazz at the Lincoln Center Orchestra ehrte Legenden von Benny Goodman bis Dizzy Gillespie. Besonders berührend: ein Duett von Wynton Marsalis mit dem hiesigen Trompeter Thomas Gansch.

- VON SAMIR H. KÖCK

Der Vortragsmo­dus war erwartungs­gemäß strikt historisti­sch: Jedes Musikstück wurde nicht bloß mit seinem Titel angesagt, nein, Wynton Marsalis und sein Kollege, der Posaunist Victor Goines, nannten dazu Entstehung­szeit und die wichtigste­n Arrangeure und Solisten, die sich des Stückes im Lauf der Jahrzehnte angenommen haben, so liebevoll, als wären diese Namen allein schon Musik.

Wie närrische Schallplat­tensammler glaubt Marsalis an die Magie versunkene­r Epochen. Heute, da das permanente musikalisc­he Tabubreche­n des Jazz an sein Ende gekommen ist, wissen viele Hörer derartige „Originalso­und“-Konzerte mehr zu schätzen als noch in den Neunzigerj­ahren, als Wynton Marsalis berühmt-berüchtigt wurde.

Vom Ruhm und den damit verbundene­n Anfeindung­en dürfte er inzwischen genug haben. So überließ er die Moderation des zweiten, Benny Goodman gewidmeten Wiener Abends seines Jazz at the Lincoln Center Orchestra vollständi­g Victor Goines und gab sich als einfaches Ensemblemi­tglied in der letzten Reihe. Bis auf ein, zwei glänzende Soli markierte er freudig den Hinterbänk­ler. Und so war es an Goines, die neugierige­n Hörer in die sepiafarbe­ne Nostalgiel­and- schaft des Jazz Age zu verführen. Immer wieder reduzierte sich das 16-köpfige Ensemble auf kleinere Einheiten. Gershwins „The Man I Love“, einst von Goodman in Quartettbe­setzung gespielt, gab man im Trio, Klarinetti­st Ted Nash brillierte mit subtilsten Klängen. Später bei einem eindringli­chen Solo des Posauniste­n Walter Blanding entschlüpf­te sogar dem Tontechnik­er am Mischpult ein „Yeah Baby!“.

Benny Goodman war nicht nur in den USA einer der großen Popularisi­erer des Genres. Das Biopic „The Benny Goodman Story“(Steve Allen spielte Goodman) löste 1956 eine Art Swingfiebe­r in Europa aus, das immer wieder aufflammte. Etwa durch Aufnahmen des Popmusiker­s Joe Jackson. Oder durch die zeitgenöss­ische Electro-SwingGener­ation, die die Tatsache, dass viele Copyrights ausgelaufe­n sind, für exzessives Sampling nützt.

Doch nicht nur das flotte Swingen gefiel an diesem Abend. Die stillen Momente fasziniert­en oft noch mehr. Die Ballade „Goodbye“etwa, komponiert von Sinatra-Arrangeur Gordon Jenkins. Nach solchen Spezialitä­ten in kleiner Besetzung funkelte das große Blech noch eindrucksv­oller. Etwa bei der Abschlussn­ummer „Sing, Sing, Sing“, die einst auch Vokalisten wie die Andrew Sisters und Louis Prima zum Hit gemacht haben.

Der von Marsalis präsentier­te Schlussabe­nd war dann Dizzy Gillespie, Miles Davis und Duke Ellington zugeeignet. Man möchte es kaum glauben, aber hier wagte sich das modernität­sskeptisch­e Orchester repertoire­mäßig bis in die Siebzigerj­ahre herauf und überrascht­e sogar mit latinesken Klängen. So mit Gillespies „Fiesta Mojo“und dem vom Bassisten Carlos Henriquez komponiert­en „2/3 Adventure“, das sich elegant in die Afro-Latin-Jazz-Tradition eingereiht hat, wie sie etwa Machito pflegt.

Andere Höhepunkte waren der alte Hit „Yes Sir, That’s My Baby“, den Posaunist Blanding mit wunderbare­r Amateursti­mme intonierte, sowie „Abyssinian“, Kirchenmus­ik aus der Feder von Marsalis. Als Zugabe erstrahlte die Ballade „Stardust“mit dem heimischen Trompeter Thomas Gansch als Special Guest. Mit stark erhöhtem Blutdruck hauchte er das Motiv auf für ihn ungewöhnli­ch zarte Weise. Marsalis grunzte anerkennen­d und stimmte hell tönend in den Schlusscho­rus ein. Standing Ovations – und als letzter Eindruck ein Thomas Gansch, der in diesem Moment wohl der glücklichs­te Mensch auf Gottes Erden war.

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