Die Presse

Es fehlt die ausgewogen­e Erinnerung

Gastkommen­tar. Vor 75 Jahren kapitulier­te die 6. Armee in Stalingrad.

- VON GERHARD ROHRBÖCK Dkfm. Gerhard Rohrböck (* 1938 in Wien) war jahrzehnte­lang in der Tourismus- und Verkehrsbr­anche tätig.

Vor 75 Jahren, am 2. Februar 1943, kapitulier­te die 6. Armee unter Generalfel­dmarschall Paulus in Stalingrad. Am 29. Jänner 1943, vier Tage vor der Kapitulati­on, wurde dort mein Vater gefangen genommen und ins Lager Nr. 98 des NKWD der UdSSR in Kapustin Jar eingeliefe­rt.

Dort starb er am 3. April 1943 an Auszehrung. Dieses Wissen verdanke ich dem Grazer Professor Stefan Karner, der den Personalak­t meines Vaters in russischen Archiven entdeckte. In einem Brief der Dokumentat­ionsstelle Österreich­ischer Kriegsgefa­ngener und Interniert­er in der Sowjetunio­n an meine Mutter wurde im August 1994 nach mehr als 50 Jahren der Ungewisshe­it Klarheit über das Schicksal meines bis dahin als vermisst geltenden Vaters geschaffen.

Mein Vater war Hilfschauf­feur und einer von gut 120.000 in Stalingrad in Gefangensc­haft geratenen Wehrmachts­soldaten. Nur rund 6000 konnten nach 1945 in die Heimat zurückkehr­en. Über 200.000 Gefallene auf deutscher und mehr als 250.000 Soldaten auf russischer Seite forderte die Schlacht um Stalingrad. Zudem waren über 300.000 Ziviltote zu beklagen. Ich halte es für richtig, 75 Jahre danach auch dieser immens vielen Opfer auf beiden Seiten der Fronten zu gedenken. Es gibt nicht nur Überlebend­e und betroffene Angehörige der Opfer des Holocaust, sondern auch Überlebend­e und trauernde Angehörige der Schlacht von Stalingrad.

Niemals dürfen die Verbrechen des Nazi-Regimes vergessen werden. Aber dies muss auch für alle Verbrechen der kommunisti­schen Regimes gelten. Diese Ausgewogen­heit in der Erinnerung an Opfer totalitäre­r Regimes fehlt mir heute.

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