Mordrekord erschüttert Mexiko
Organisierte Kriminalität. Die Kartelle greifen im Kampf um den neuerdings wieder blühenden Heroinmarkt brutaler denn je nach der Macht. Die Politik bleibt eine Antwort schuldig.
Die Drogenkartelle greifen im Kampf um den blühenden Heroinmarkt brutaler denn je nach der Macht.
Als Tadeo Lineol Alfonzo Rojas’ Leben endete, war der Tag noch jung. Der 45-Jährige wurde in der letzten Jännerwoche von einem Motorrad aus hingerichtet. Auf dem Rücksitz saßen seine zwei Kinder, die er zur Schule fahren wollte.
Ein Name mehr in Mexikos Mordstatistik, die 2018 noch dramatischer begann als im Vorjahr, als nicht weniger als 29.168 Ermordete zu Buche standen – so viele wie noch nie in Mexikos jüngerer Geschichte. Mehr Morde gab es nur in wenigen bevölkerungsreicheren Ländern (Indien, Brasilien, Nigeria). Etwa ebenso viele Menschen werden zudem vermisst.
Dass Rojas’ Tod überhaupt medial aufgegriffen wurde, lag an seinem Beruf. Er war Sicherheitschef einer der sechs staatlichen Ölraffinerien in Salamanca, Zentralmexiko. Dort mehren sich Berichte über den Griff des organisierten Verbrechens nach dem Treibstoffmarkt, mehrere Mitarbeiter des Ölriesen Pemex verloren ihr Leben.
Mexikos Kartelle diversifizieren. In 23 illegalen Geschäftsfeldern verdienten sie Geld, sagt der international renommierte Sicherheitsexperte Edgardo Buscaglia. Die Kartelle dealen mit Drogen, Waffen, Raubkopien, erpressen, entführen, nehmen Schutzgeld. Sie zwingen junge Frauen in die Prostitution, naschen am Handel mit Avocados, Gas und Benzin mit. Und investieren ihr schmutziges Geld in der realen Wirtschaft: Tourismus, Finanzwesen, Industrie.
„Mexikos organisiertes Verbrechen ist das raffinierteste der Welt“, sagt der Jurist Buscaglia, der an der New Yorker Columbia University lehrt und Richter aus 109 Staaten im Kampf gegen Korruption geschult hat. Und dieses System habe einen enormen Wettbewerbsvorteil: „Die Staatsmacht steht der Mafia vollkommen zu Diensten“, behauptet Buscaglia. Angefangen beim Präsidenten: „Enrique Pen˜a Nieto ist ein Angestellter der kriminellen Netzwerke.“
Präsident als Kartelldiener?
Buscaglia zieht eine bittere Bilanz der sechs Jahre unter dem Mann mit der perfekten Filmfrisur. Am 1. Juli werden die Mexikaner seinen Nachfolger wählen, das Parlament und einige Gouverneure, fünf Monate später endet Pen˜a Nietos Amtszeit. Diese hat vielversprechend begonnen, galt als frische Hoffnung auf Erneuerung der Partei der institutionalisierten Revolution PRI. Das „Time Magazine“adelte ihn nach einem Amtsjahr zum „Retter Mexikos“, nachdem er den verkrusteten Staatsriesen Pemex für private Investoren geöffnet hatte. Doch dann fielen die WeltÖlpreise und die Euphorie zerrann. Während die Wirtschaft dümpelte, blühte Korruption, auch im Familienkreis des Präsidenten und seiner Gattin, der Telenovela-Schönheit Angelica´ Rivera. Seine Strategie, den von seinem Vorgänger geerbten Drogenkrieg zu gewinnen, war vor allem, darüber zu schweigen. Doch die Taktik scheiterte, auch, da die Gewalt zunahm: 2017 starben 17 Prozent mehr Menschen als 2016 im Krieg der Banden untereinander und mit dem Staat.
Neuer Boom des Heroins
Zu erklären ist die Explosion mit zwei Phänomenen: der Zerschlagung traditioneller Banden wie dem Golfkartell oder dem aus Sinaloa, das nach der Auslieferung des Superbosses „Chapo“Guzman´ stark an Schlagkraft verlor; und mit dem Heroinrevival in den USA, dessen Rohstoff auf den Mohnfeldern der Bundesstaaten Guerrero, Sinaloa, Durango, Chihuahua oder Oaxaca blüht. Mexiko ist nun der drittgrößte Mohnproduzent der Welt nach Afghanistan und Burma.
Um den Heroin-Megamarkt kämpfen Dutzende Kartelle, die, so Buscaglia, Kontakte pflegen zu Politikern, Richtern, Polizei und Unternehmern. Im Kampf um Schmuggelrouten und Macht respektieren Todeskommandos der Kartelle auch keine Limits mehr. 2007 töteten sie zwölf Journalisten, einen davon während eines Krippenspieles in einer Volksschule in Veracruz vor den Augen Dutzender Eltern und Kinder. Anfang der Woche fanden Ermittler nahe der Ortschaft Chilapa im Pazifik-Bundesstaat Guerrero sieben zerstückelte Leichen in 15 Plastiksäcken. Fast täglich berichten Medien über Szenen wie aus Splatter-Filmen: zwölf abgetrennte Köpfe in Veracruz, eine Mutter aus Morelos, deren Mann und zwei Kinder in ihrem Auto im Kugelhagel sterben. Selbst vermeintlich sichere Touristengebiete sind betroffen: die Halbinseln Yucatan´ und Baja California etwa und der Hauptstadtdistrikt.
„Auf Mexiko kommt ein perfekter Sturm zu“, warnt Jorge Castan˜eda. Der Ex-Außenminister meinte damit nicht die Sicherheitsmisere im Land, sondern die wirtschaftlichen Wolken aus dem Norden: Die Senkung der US-Unternehmenssteuern auf 21 Prozent könnte Firmen zum Umzug in die USA verleiten und Jobs abziehen.
Deal mit Kartellen möglich
Das wäre Wasser auf die Mühlen jenes Politikers, der alle Umfragen vor der Präsidentenwahl anführt: der Linkspopulist Andres´ Manuel Lopez´ Obrador, kurz „Amlo“. Ein Anti-Trump, dessen Ego aber dem Widerpart in Washington ähnelt. Bei einem Wahlkampfauftritt sagte Amlo jüngst, er könne sich vorstellen, Drogendealer zu begnadigen und mit den Kartellen über einen Waffenstillstand zu verhandeln.