„Ignoranz Londons erschreckt“
Interview. Peer Steinbrück, deutscher ExFinanzminister und Kanzlerkandidat, über den Brexit, das lahmgelegte Berlin, die Garrotte um Italiens Hals und dummes Zeug von Populisten.
Peer Steinbrück, deutscher ExFinanzminister, über den Brexit, das lahmgelegte Berlin, die Garrotte um Italiens Hals und dummes Zeug von Populisten.
Die Presse: Was erwartet sich der Ex-Politiker Steinbrück von der künftigen deutschen Regierung? Peer Steinbrück: Bisher sieht das leider nach Notheirat aus. Das ist nicht sehr faszinierend. Wenn zum dritten Mal in 13 Jahren eine Große Koalition ansteht, sollte sie schon den Ehrgeiz haben, große Zukunftsfragen anzupacken. Bisher gibt die Körpersprache keinen Aufbruch zu verstehen. Drei Parteivorsitzende klammern sich aneinander, damit sie nicht umfallen.
Berlin ringt sehr lang um eine neue Regierung, das schwächt seine Rolle in der EU. Übernimmt nun Macron statt Merkel die Führung in Europa? Den Taktstock hat eindeutig der französische Präsident in die Hand genommen. Deutschland ist lahmgelegt. Umso wichtiger ist es, dass es bald eine handlungsfähige Regierung gibt, die im Tandem mit Frankreich Initiativen startet.
Wie soll die EU den Brexit verhandeln, hart oder konziliant? Beim Brexit verlieren beide Seiten, aber die Briten mehr. Das Erschreckende ist, mit welcher Ignoranz die Regierung in London in diese Situation geraten ist. In Brüssel ist man entsetzt darüber, wie dilettantisch die andere Seite verhandelt. Wir sollten aber nicht die Hardliner spielen. Die britischen Inseln müssen nahe an Europa bleiben, schon aus gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessen. Aber die Briten können auch keine Rosinenpickerei betreiben. Das wäre ein Präjudiz für andere Länder, das geht nicht.
Sie haben als Politiker Konflikte nie gescheut. Bei welchen Themen sollte man in der EU mehr Klartext reden? Zur Entwicklung in Ungarn und Polen. Man muss Europas Wertekanon, den man in Sonntagsreden vertritt, auch in der Praxis durchsetzen. Mit ihm verträgt sich nicht, wenn die Unabhängigkeit von Justiz, Medien, Forschung und Lehre nicht mehr gewährleistet ist. Mit einer klareren Haltung würde man auch die vielen Bürger in Polen und Ungarn unterstützen, die eindeutig proeuropäisch sind.
In Wien ist Ungarns Premier Orban´ ein gern gesehener Gast . . . Das ist er bei der CSU in Bayern auch. In beiden Fällen müsste man ihm klar signalisieren, dass das, was in Ungarn passiert, mit den Werten und der notwendigen Solidarität in Europa unvereinbar ist.
Streitbar waren Sie auch beim Thema Steuerflucht. Gegen die Schweiz wollten Sie sogar die Kavallerie ausreiten lassen . . . Ich nehme diese Bemerkung nicht zurück. Es ging darum, ein kriminelles Verhalten nicht mehr als Kavaliersdelikt durchgehen zu lassen. Die Schweizer Banken haben deutsche Bürger eingeladen, vorsätzlich Steuerbetrug zu betreiben. Das war eine klare Verletzung der Souveränität Deutschlands. Heute nimmt die Schweiz am automatischen Informationsaustausch teil, da hat sich viel positiv geändert.
An welcher Front wird die Kavallerie heute gebraucht? Wir können nicht zulassen, dass ein EU-Land für Konzerne Steuervorteile anbietet, um anderen Steuerkraft zu entziehen. Wir brauchen fairen Steuerwettbewerb.
Wo hört die Fairness auf? Ohne Wettbewerb fehlt Politikern der Druck, sparsam mit dem Geld der Steuerzahler umzugehen . . . Ich kann verstehen, dass ein Land sagt: Ihr könnt uns nicht die Möglichkeiten nehmen, Standortpolitik auch über Steuersätze zu betreiben. Aber wir müssen die Steuerbasis harmonisieren. Und das ist nicht der Fall, wenn ein Land Holdingkonstruktionen besondere Vorteile einräumt.
Wie soll man da Druck aufbauen, gegen Luxemburg, die Niederlande und Irland? Man muss diesen Ländern klarmachen, dass sie mit diesem Vorgehen ihren Nachbarn schaden. Das entspricht nicht dem europäischen Geist. Und gegenüber den großen Internetkonzernen müssen wir das Prinzip durchsetzen: Gewinne werden dort besteuert, wo sie anfallen.
Ist das nicht typisch EU? Man denkt nach, wie man Google und Co. stärker besteuert, anstatt zu überlegen, wie man solche Firmen in Europa gründen könnte . . . Das eine schließt das andere ja nicht aus. Aber ich gebe Ihnen recht: Europa hat darin versagt, eine eigenständige Internetwirtschaft mit führenden Unternehmen aufzubauen. Wir haben nicht rechtzeitig registriert, welche Re- volution die Digitalisierung auslöst. Und wir waren nicht schnell genug dabei, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. So gerät Europa in den Schraubstock amerikanischer und jetzt auch chinesischer Internetgiganten.
Gibt es zu wenig Hilfe vom Staat? Es ist leicht, das auf den Staat abzuschieben. Es geht auch um unternehmerisches Versagen. Schauen Sie sich die deutsche Autoindustrie an, die sich so viel auf ihren strategischen Sachverstand einbildet: Die ist auch nicht auf der Höhe der Zeit gewesen.
Nochmals zur Steuervermeidung: Der Vorstand einer AG muss alle Möglichkeiten zu legaler Steuerersparnis nutzen. Sonst handelt er fahrlässig gegenüber den Eigentümern. Das ist vielleicht kurzfristig nachvollziehbar. Aber längerfristig verliert unsere soziale Marktwirtschaft ihre Legitimation durch Übertreibungen – wenn Firmen sich ständig fragen, wie sie ihren Verpflichtungen gegenüber der Allgemeinheit am besten entgehen können. Der normale Arbeitnehmer kann das nicht. Der sagt: Ich bin der ehrliche Steuerzahler. Und diejenigen, die dicke Gewinne machen, zahlen nicht. Da fängt die Delegitimierung eines Gesellschaftssystems an.
Eine Firma kann das allein nicht ändern, sonst zieht ihr die Konkurrenz davon. Die Politik muss Schlupflöcher schließen. Richtig. Aber ich habe das als Finanzminister zu oft machen müs- sen. Wie ein Installateur, der permanent Löcher abdichten muss. Dann setzen sich in den Unternehmen die an Law Schools exzellent ausgebildeten, vielsprachigen Leute an den Tisch und suchen nach dem nächsten Leck. Irgendeines finden sie immer. Also muss ich mit meiner Installateurtruppe wieder ausrücken. Und anschließend beschweren sich dieselben Leute, dass unser Steuerrecht zu komplex ist. Dieses Rattenrennen muss endlich aufhören.
Sie fürchten, dass sich Bürger deshalb radikalisieren. Aber die Wahlergebnisse scheinen zu zeigen: Die einzigen Themen, die sie wirklich bewegen, sind innere Sicherheit und Migration. Das Elitenversagen gehört schon auch dazu. Aber Sie haben recht. Das zentrale Thema im deutschen Wahlkampf war der Wunsch nach einem handlungsfähigen Staat – und bei einigen auch nach „Ordnung“, was ein sehr vorbelasteter Begriff ist. Auch in Österreich.
Die Österreicher haben da aber weniger Hemmungen. Ja, das ist schon erstaunlich, was man da von einer Partei und von den Burschenschaften hört.
Die Wirtschaft läuft gut. Ist in der Eurozone nun alles eitel Wonne? Ist es nicht. Es gibt weiter Risken aus der drastisch gestiegenen öffentlichen und privaten Verschuldung. Die Nullzinspolitik der EZB, die ich lang verteidigt habe, hat Folgen: Zombiefirmen werden am Leben erhalten. Und Staaten kommen billig an Kapital, was nicht gerade ein Anreiz für Reformen ist.
Das sieht man an den Staatsschuldenquoten . . . Italien ist mit über zwei Billionen Euro öffentlich verschuldet. Was passiert, wenn es zu einer Zinswende kommt, und sei sie noch so vorsichtig? Da legt sich um den Hals eines großen und wichtigen EU-Staates eine Garrotte.
Haben wir nichts dazugelernt? Die Banken sind widerstandsfähiger als vor der Krise. Da ist viel geschehen: mehr Eigenkapital, Liquiditätspuffer, gemeinsame Aufsicht, Regeln zur Abwicklung.
Frankreich will ein gemeinsames Budget für die Eurozone. Führt das zu einer Vergemeinschaftung der Schulden? Das ist die typische deutsche Reaktion: Wir wollen nicht der Zahlmeister Europas sein.
Aber im Agrarsektor ist die EU seit jeher eine Transfergemeinschaft. Und über die EZB ist sie es auch: Wenn deren Kredite ausfallen, ist Deutschland mit 27 Prozent beteiligt. Insofern ist dieses Gerede wirklichkeitsfremd, eine Illusion. Deutschland wird es immer nur so gut gehen, wie es seinen Nachbarn gut geht. Die Vorstellung der Rechtspopulisten, der Rückzug in die eigene Wagenburg sei die Antwort auf Unsicherheiten, ist gelinde gesagt dummes Zeug. Denn es gibt kaum noch eine bedeutende Frage, die national gelöst werden kann.
Also Ja zum Eurozonenbudget?
Natürlich muss man sich fragen: Wozu soll es dienen? Nur zum Stopfen von Budgetlöchern oder zur Refinanzierung von Schulden? Dafür bin ich nicht. Aber ich kann mir Töpfe für Investitionen vorstellen, auch als Anreiz für Reformen.
Hat das jemals funktioniert?
Selbst wenn es noch nie funktioniert hat, sollten wir es versuchen. Und einige Länder haben ja bemerkenswerte Anstrengungen gemacht. Spanien und Portugal werden da unter Wert gehandelt. Sie waren mit einem Kabarettisten auf Tournee. Wie steht es um den Humor der Deutschen? Zum deutschen Selbstverständnis gehörte lang das Verbot, sich selbst auf die leichte Schulter zu nehmen. Aber das hat sich Gott sei Dank geändert. Es ist eine junge Generation herangewachsen, die endlich zur Selbstironie fähig ist und nicht alles bierernst nimmt.
Vielleicht wären Sie mit Ihrer Art zehn Jahre später politisch erfolgreicher gewesen . . . Wer sagt Ihnen denn, dass ich 2025 nicht noch einmal antrete? ZUR PERSON
Peer Steinbrück (71) ist ein deutscher Politiker (SPD). Von 2002 bis 2005 war der gebürtige Hamburger Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen. Danach steuerte er Deutschland als Finanzminister einer Großen Koalition von 2005 bis 2009 durch die Finanz- und Wirtschaftskrise. 2013 unterlag er als SPD-Kanzlerkandidat der Amtsinhaberin Merkel. Im Herbst 2016 legte Steinbrück sein Bundestagsmandat zurück und berät nun den Vorstand der Ing-Diba.