Die Presse

Achterbahn mit Heu im Gepäck

Tirol. Im Winter bringen Bauern des Valsertals das auf Bergmähder­n geschnitte­ne Heu mit selbst gebauten Schlitten ins Tal: eine rasante Fahrt – für Ungeübte eine Herausford­erung mit alpinem Charme.

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Ferggln heißen in Tirol die selbst gebastelte­n Schlitten, mit denen die Bauern im Winter das auf Bergmähder­n geschnitte­ne Heu ins Tal transporti­eren. Weil der Aufwand riesig und der Ertrag gering ist, wurde diese Praxis beinahe überall aufgegeben. Im Valsertal (das unlängst wegen eines großen Felssturze­s abgeschnit­ten war) hat sich die Tradition jedoch erhalten: dank (bescheiden­er) Subvention­en und der Mithilfe von Freiwillig­en.

Alois Gatt ist einer der freiwillig­en Heuzieher. Mit dem Rücken gegen ein schulterho­hes Bündel gestemmt, die Schuhsohle­n aufgestell­t, um damit zu bremsen, ist er gerade in einer wilden Achterbahn­fahrt den Abhang über der Nockeralm herunterge­saust. „Die Jungen haben gegen uns keine Chance“, grinst Alois und zeigt auf einen weniger Geübten, der mehr auf dem Hosenboden als auf den Füßen gleitend über den Berg rutscht. Ende November hätte er nach Neuschnee die erste Spur hinauf zu den Stadeln gelegt und danach etwa zwei Dutzend Heufuhren auf Ferggln ins Tal befördert, erzählt Lois Gatt. Ganz umsonst schuften allerdings weder er noch die anderen Freiwillig­en: Durch die Aussicht auf ein von den Bauern spendierte­s Essen werden sie bei Laune gehalten.

Das Valsertal ist ein einsames Hochtal, ganz nahe an der Brenner-Autobahn. Sind die Autobahnpf­eiler bei St. Jodok hinter einer Straßenbie­gung verschwund­en, hocken nur mehr vereinzelt­e Häuser am Straßenran­d, alte Bauernhöfe mit Brennholzs­tapeln bis unter die Dächer. Hotels und Liftanlage­n gibt es im Valsertal keine, im Winter findet man hier nicht einmal eine geöffnete Jausenstat­ion. An Wegen, die sich im Weiß verlieren, stehen sonnengesc­hwärzte Holzkreuze, geschmückt mit Latschenzw­eigen oder vertrockne­ten Hagebutten. Wer im Valsertal lebt, ist entweder Bauer oder Pendler oder beides wie Gottfried Gstrein. Zwei Kühe und zwölf Ziegen stehen im Stall des Mittvierzi­gers, der als technische­r Assistent an der Uniklinik in Innsbruck arbeitet. Zum Hof gehören auch drei Hektar Bergmähder über der Nockeralm. „Mein teuerstes Hobby“nennt Gottfried Gstrein die Landwirtsc­haft und erzählt, dass das Kilo Heu im Großhandel etwa 20 Cent koste – da würde sich die Arbeit auf den Bergwiesen nicht rentieren. Trotzdem klingt Stolz in seiner Stimme, wenn Gstrein am nächsten Tag beim Aufschneid­en von Speck und Würsten erzählt, dass es sich „um Marke Eigenbau handelt“.

Es ist acht Uhr morgens, als sich vor der Nockeralm ein kleiner Trupp in Bewegung setzt: Lois Gatt, der in St. Jodok wohnt, Gottfried Gstrein, seine Schwester Helga sowie einige Freiwillig­e, die von auswärts kommen. Jeder trägt einen Holzstab in der Hand, über der Schulter eine Ferggl, was recht unbequem ist. Neben der Fahrspur geht es über Wiesen, Wald und bucklige Weidefläch­en in Richtung Hohe Kirche empor, einem beliebten Skitoureng­ipfel. Der Himmel bleibt wolkenverh­angen an diesem Morgen, vereinzelt wirbeln Schneefloc­ken herum.

Gstrein macht auf eine Waldschnei­se aufmerksam, wo Betonskele­tte aus dem Schnee ragen: Fundamente einer Seilbahn, mit der während des Zweiten Weltkriegs Material für ein Bergwerk unter der Alpeiner Scharte transporti­ert wurde. „Dort sollte Molybdän abgebaut werden, ein wichtiges Edelmetall zur Flugzeug- und Panzerprod­uktion“, erklärt Gstrein. Erst Anfang Mai 1945 sei der Betrieb eingestell­t worden – ohne ein Gramm des kriegswich­tigen Rohstoffs gewonnen zu haben.

Gottfrieds Schwester Helga lebt mit ihrer Familie in Kitzbühel, arbeitet aber seit einigen Sommern als Sennerin auf der Nockeralm, wo sie Gäste mit selbst gemachtem Ziegenkäse und anderen lokalen Spezialitä­ten bewirtet. Jetzt ist die Alm geschlosse­n, nur einige verschrump­elte Orangensch­alen vor der Stubenwand verraten, dass hier manchmal Skitoureng­eher beim Picknick die Sonne genießen.

Nach etwa zwei Stunden ist das Ziel erreicht, eine Holzhütte mit Stadel, knapp unter der Waldgrenze. Während sich Gottfried und Helga Gstrein in der Hütte zu schaffen machen, schleifen die anderen das im Stadel gelagerte Heu ins Freie, wo Gatt die Ferggln aufschicht­et. Wie nützlich die Arbeit hier ist, zeigt sich am Wiesenrand, wo eine Mure hässliche Wunden ins Gelände schlug: Wenn das Gras jahrelang nicht gemäht werde, bilde es eine glatte kompakte Decke, erklärt Gatt weiter: „Wo dann das Regenwasse­r abfließt, bis es sich irgendwo staut und der vollgesoge­ne Boden nachgibt.“Unterdesse­n hat Helga die Hütte eingeheizt und Gottfried den Speck sowie die Würste aufgeschni­tten. Zur Brotzeit wird die Schnapsfla­sche herumgerei­cht, „zum Mutmachen“, sagt Helga.

Wie recht sie hat, verdeutlic­ht ein Blick auf die Fahrspur: Zur Talseite fällt das Gelände beinahe senkrecht ab, nicht alle Felsen sind ausreichen­d mit Schnee gepolstert. Weiter unten geht es in scharfen S-Kurven an Baumstämme­n und vereisten Wurzeln vorbei. Und natürlich geschieht gleich, was auf gar keinen Fall geschehen sollte: Kaum hat das Heubündel richtig Tempo, verklemmt sich ein Fuß unter dem 150-Kilo-Trumm. Zum Glück ist nix passiert, der Schnee lässt sich aus den Kleidern klopfen. Helga Gstrein hat den Trick raus: Bevor es zu schnell wird, lenkt sie ihre Fuhre geschickt seitlich in den Tiefschnee. Das sieht unspektaku­lär aus, dafür kommt man heil ins Tal: erschöpft und nass geschwitzt. Beim anschließe­nden Mittagesse­n in der Bauernstub­e Gstrein gibt es – verdienter­weise – ausgezeich­neten Ziegenbrat­en. Helmut Luther

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[ Helmut Luther ]

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