Pop-Revolution in Kunstfasern
Stadthalle. Diese Band hat die Achtzigerjahre gut überstanden: Depeche Mode fesselten von Beginn an. Sänger Dave Gahan senkte köstliche Furcht in Kinderseelen jeden Alters.
Dralon, Perlon, Nylon – an diesem Abend hatte die Generation der Kunstfaserfreunde endlich wieder Ausgang. Die Anfang der Achtzigerjahre bevorzugten Textilien bestachen ja, indem sie Reißfestigkeit mit Dehnbarkeit und Temperaturbeständigkeit versöhnten, für den Sound jener Jahre gilt das immer. Mit Genugtuung stellten die Fans in der prall gefüllten Wiener Stadthalle fest, dass die patinierten, in ihrer Einfachheit rührenden Synthesizermelodien, die klaren Basslinien und die brüllenden Beats unbeschadet die Jahrzehnte überlebt hatten. Und das bisserl Feuchtigkeit, das sich da beim Tanzen ansammelte, war locker vernachlässigbar. Schwitzen und ein wenig Müffeln für den Sound der (alten) Moderne, das war das Gebot der Stunde. Sänger Dave Gahan freilich biegt sich den Massen heutzutage lieber im luftigen Gilet zu.
Zunächst gab es als Appetithäppchen die markante Stimme John Lennons: Durch die Boxen donnerte der Beatles-Song, mit dem Lennon die Politaktivisten von 1968 verärgert hatte, mit Sätzen wie „You say you want a revolution, well you know, we all want to change the world“. Das Lied diente auch Depeche Mode als Reibebaum. Während Lennon die Chance, dass ein Popsong die Welt nachhaltig verändern könnte, als eher gering einschätzte, forderten Depeche Mode mit ihrem aufreizend tristen Befund des Zeitgeists im Opener „Going Backwards“durchaus Aktion: „Armed with new technology going backwards to a cavement mentality“, klagte Gahan in kunstvoll ersterbende Klänge hinein. Sein Resümee fiel pessimistisch aus: „We’ve lost control. We have lost our soul. We feel nothing inside, because there’s nothing inside.“
Vielleicht gegen diesen Seelenverlust, jedenfalls aber gegen das heutige Elend der Utopielosigkeit könnte helfen, den zuletzt so zerzausten Wert der Solidarität wiederzuentdecken. In delikater Sperrigkeit fordern Depeche Mode dies mehr oder weniger explizit ein. Dazu verbindet ihre kooperativ erarbeitete Geräuschwelt auf einnehmende Art bösen Lärm und süße Melodie. Durch die elegante Fusion dieser beiden Elemente bringen sie Furcht in Kinderseelen jedes Alters.
Kein Wunder also, dass ihre Gefolgschaft aus mittlerweile zweieinhalb Generationen besteht. Innovatoren waren Depeche Mode zwar nie, allerdings hat ihre moderate Industrial-Ästhetik bis zum heutigen Tag subtiles Devianzpotenzial. In ihrem Sog kann der Fan dezent Abweichung vom Mainstream leben. So sah man in der Halle nur wenige, die durch Äußerlichkeiten auffallen wollten. Der wahre Depeche-Mode-Fan hält nichts von oberflächlichem Flitter, er huldigt lieber einem Stil der Stilvermeidung. Und lebt auf, wenn Gahan wieder einmal eine seiner zahlreichen Posen der Verweigerung einnimmt. „What do you expect of me? Whatever you’ve planned for me, I’m not the one“, hieß es im wuchtigen „Barrel of a Gun“. Wenn alle das Glück anstreben, dann tut es diese Band just nicht und verliebt sich lieber in den Schmerz. „A Pain That I’m Used To“hieß ein anderer Song des Abends: „Pay the price for your paradise, devils feed on the seeds of your soul“, predigte Gahan die Worte von Martin Gore.
Wie viele Popbands von Dauer werden Depeche Mode ja von zwei höchst unterschiedlichen Charakteren geführt: Gore, das stille Genie der Band, schreibt die wichtigsten Songs, Gahan singt sie mit viel Stimmcharisma. Dass Gore auch stets ein, zwei Songs live intoniert, ist allerdings Kult. Mit charmant ungelenker Stimme irrte er durch „Insight“und „Home“, reizte die hilfsbereiten Fans zu unterstützenden Gesängen. Auch Gahan weiß, dass so ein Konzert ein Geselligkeitsformat ist, das ein gewisses Mindestmaß an Interaktion verlangt. Wiederholt hielt er den singfreudigen Massen das Mikrofon hin, dirigierte sie auf einem weit ins Auditorium hineinragenden Steg nach Belieben.
Nicht nur bei den gut gealterten Megahits „Everything Counts“und „Enjoy the Silence“gerieten die Fans in Verzückung. Auch jüngeres Liedgut von „Precious“bis zu den überraschend gesellschaftspolitischen Songs des aktuellen Albums, „Spirit“, behagte. Auf diesem durfte Schlagzeuger Christian Eigner, seit auch schon wieder 20 Jahren Österreichs Beitrag zu Depeche Mode, zwar nicht mitspielen, dafür bei zwei Songs mitkomponieren. Etwa bei der leicht zähen Astronautenballade „Cover Me“, deren Botschaft eine uralte ist: Deine Probleme wirst du nicht durch Ortswechsel los. Du musst bei dir selbst ansetzen. Womöglich könnte aber eine Revolution helfen. Diese mahnte Gahan dann tatsächlich ein: „Where’s the revolution? Come on, people, you’re letting me down“, lautete ein Refrain.
Ein anderer Höhepunkt war „Useless“, das Kruder & Dorfmeister in den Neunzigerjahren mustergültig remixten – und damit Depeche Mode ein international beachtetes Hipness-Gütesiegel ausstellten. Vielleicht klang es deshalb so ehrlich, als Gahan am Schluss „Vienna, you’re the best!“rief?