Volksseuche Antisemitismus ist weit mehr als ein FPÖ-Problem
Parteichef Strache riskiert mit Abgrenzung von extremen Burschenschaftern seine politische Existenz. Antisemitismusdebatte darf sich nicht auf die Blauen verengen.
Manfred Deix’ Zeichnung aus der Zeit der rot-blauen Koalition in den 1980er-Jahren ist eine Ikone der politischen Karikatur. „Tja, es muss sein. Liebe Parteifreunde: Nazis raus aus der FPÖ!!“, verkündet der damalige liberale FP-Chef Norbert Steger einer Menge von Parteifreunden. Im zweiten Bild sieht sich Steger mit ganz wenigen Gefolgsleuten alleingelassen.
Drei Jahrzehnte danach wird die geniale Karikatur ansatzweise zur politischen Aktualität. Verantwortung und Gedenken an die Opfer des Holocaust seien Verpflichtung für Gegenwart und Zukunft, verkündete FPÖ-Chef HeinzChristian Strache ausgerechnet seiner wichtigsten Basis beim Ball der schlagenden Burschenschaften: „Wer das anders sieht, soll aufstehen und gehen. Er ist bei uns nicht erwünscht.“
Der Beifall vor Ort blieb verhalten. Hardcore-Burschenschafter und StracheFeind Ewald Stadler drohte „Im Zentrum“mit einem neuerlichen Aufstand der Partei nach dem Muster Knittelfeld 2002 in der ersten schwarz-blauen Koalition. Die vielen und einflussreichen Burschenschafter in den blauen Reihen würden nicht akzeptieren, „dass Strache vor der ÖVP auf die Knie geht“.
Tatsächlich darf man bezweifeln, dass Strache ganz aus eigenem Antrieb den Rücktritt des antisemitisch angepatzten niederösterreichischen Spitzenkandidaten Udo Landbauer erzwungen hat und sich dann so deutlich von den extremen Burschenschaftern distanziert hat. Der Außendruck auf den neuen Vizekanzler war evident. Und er wirkte wohl auch deshalb, weil Strache sein Regierungsamt unübersehbar genießt und um eine neue Reputation als seriöser politischer Player und um das persönliche Vertrauen von Bundespräsident und Kanzler ringt.
Was in Oppositionszeiten wiederholt als Einzelfall neonazistischer oder antisemitischer Rülpser abgetan werden konnte, wird für die neue Regierungspartei zur mittleren Staatsaffäre. Entscheidend beeinflusst durch die klare Rücktrittsaufforderung an den Blauen aus der Burschenschaft mit grausigem Liedgut von Bundes- präsident Alexander Van der Bellen – der seine Wahl damit endgültig als Glücksgriff bewiesen hat – und die Verweigerung jeder Zusammenarbeit durch Niederösterreichs Wahlsiegerin Johanna Mikl-Leitner. Am Ende kam wohl auch Druck vom Kanzler, der sich davor noch auf strafrechtliche Grenzen beschränken wollte.
Präzise zusammengefasst hat die aktuelle Lage Niederösterreichs Altlandeshauptmann Erwin Pröll: „Die FPÖ hat jetzt ein Mondfenster, die Schatten der Vergangenheit loszuwerden. Das ist die Aufgabe der ganzen Regierung. Da ist also auch der Kanzler in der Pflicht.“Strache befindet sich nach der Euphorie des Regierungseintritts in einer Doppelmühle. Er verdankt seinen politischen Aufstieg und das Überleben seiner Partei weitgehend seinen Bundesbrüdern in den Burschenschaften, die heute zu Dutzenden in hohen Parteifunktionen und öffentlichen Ämtern von Regierungen, Parlamenten und Ministerkabinetten die FPÖ dominieren. Gleichzeitig muss er zum Erhalt der Regierungsfähigkeit und der Koalition klare Grenzen gegenüber Neonazis und Antisemiten in Teilen der schlagenden Verbindungen ziehen.
Der gesellschaftliche und politische Druck gegen diese Tendenzen darf nicht aufhören, auch wenn er gelegentlich politisch instrumentalisiert wird. Redlicherweise darf man aber auch nicht negieren, dass Antisemitismus kein Spezialproblem von ein paar Tausend Schlagenden oder der FPÖ ist. Eine weltweite Umfrage zeigte bei 28 Prozent der erwachsenen Österreicher antisemitische Haltungen, das sind 1,9 Millionen. Wir liegen damit deutlich über dem westeuropäischen Durchschnitt von 24 Prozent.
Die gute Nachricht: Während 41 Prozent der über 50-Jährigen an dieser Volksseuche leiden, sind es unter den Jüngeren bis 34 nur zwölf Prozent. Einschlägige Bildung und Diskussion zeigen offenbar Wirkung.