Die Presse

Schnee in der Stadt: Zola jubelt, Joyce wird melancholi­sch

Arthur Schnitzler ließ Anatol durchs verschneit­e Wien treiben, Joseph Brodsky empfahl das winterlich­e Venedig für Scheidunge­n.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON anne-catherine.simon@diepresse.com

Das Wetter ist für die Autoren oft nur ein Vorwand: Sie meinen Menschen damit.

Ob in Wien, Paris oder Moskau – Schnee ist gefallen, hat Chaos, aber auch Zauber in das Stadtleben gebracht. „Wir sind blödsinnig glücklich“, schrieb E´mile Zola 1867 über Schneefall in Paris. Die Zeitung „Le Figaro“hat seine Reportage zur Feier des Wetters aus ihrem Archiv geholt. Zola schwärmt hier von der „sanften Unbeweglic­hkeit“, der „eisigen Heiterkeit des Raums“, von Straßen wie „weißer Satin“, wie ein „jungfräuli­cher und reiner Teppich“. Schriftste­ller haben den Schnee schon interessan­ter geschilder­t – aber im- merhin: Auch nach 150 Jahren kann man noch verstehen, was Zola damals so „blödsinnig glücklich“machte.

An welchen Autor denken Literaturf­ans, wenn in Wien die Flocken heruntersc­hweben? Vielleicht an Arthur Schnitzler. An seine „Traumnovel­le“, noch mehr aber an den jungen Anatol, wie er sich auf Liebeleien durch die Straßen Wiens bewegt. Kein Wunder, dass die Buchhändle­rin Petra Hartlieb ihre 2017 erschienen­e Erzählung über ein Kindermädc­hen bei den Schnitzler­s mit duftigem Schnee gefüllt und „Winter in Wien“betitelt hat. Nicht zuletzt Verfilmung­en haben dieses verschneit­e Wien zum Klischee gemacht; nostalgisc­h wie das verschneit­e London des Charles Dickens – das er freilich so beschrieb, wie er es in seinen Kindheitsw­intern fast immer erlebte.

Russische Autoren ließen es naturgemäß besonders häufig schneien. Berühmt ist etwa das erste Treffen von Tolstois Romanheldi­n Anna Karenina mit ihrem künftigen Geliebten Wronski am Bahnsteig in Moskau, der Schnee wirbelt irritieren­d um sie herum. Ohnehin ist das Wetter für Autoren oft nur ein Vorwand. Sie schreiben vom Schnee und meinen die Menschen. Der zugefroren­e Hudson River in New York kündigt in James Salters Novelle „Light Years“eine vereisende Ehe an. Auch in Roland Schimmelpf­ennigs Debütroman „An einem klaren, eiskalten Januarmorg­en zu Beginn des 21. Jahrhunder­ts“muss Berlin so kalt sein wie die Beziehunge­n zwischen den Figuren.

Der gebürtige Petersburg­er Joseph Brodsky ließ es über Venedig schnei- en, wo er jahrzehnte­lang den Winter verbrachte; da liest man von den schönen „Falten, Runzeln und Kräuselung­en“des grauen Wassers und der feuchten Mauern; Brodsky empfahl das winterlich­e Venedig für Scheidunge­n und unnatürlic­he Todesarten. Auch bei James Joyce winkt durch den städtische­n Schnee der Tod, aber tröstlich. Am Schluss seines Geschichte­nzyklus „Dubliners“hüllt der fallende Schnee den Erzähler in milde Melancholi­e. Der Schnee, stellt er sich vor, deckt das Universum zu. „Langsam schwand seine Seele, während er den Schnee still durch das All fallen hörte, und still fiel er, der Herabkunft ihrer letzten Stunde gleich, auf alle Lebenden und Toten.“

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