Die Presse

Noch ein Anlauf zur Lösung eines der größten Rätsel: Wozu Sex?

Biologie. Geschlecht­liche Reprodukti­on ist erklärungs­bedürftig, weil sich in ihr nur die Hälfte der Population vermehrt. Aber erklärt ist sie trotz vieler Hypothesen bisher nicht. Nun kommt eine neue: Sex soll verhindern, dass Zellen durch ihre eigenen En

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Wozu sind die Männer da? Man weiß es nicht. Aber irgendeine­n Grund muss es schon geben, einen starken. Denn 99 Prozent aller Tiere reproduzie­ren sich sexuell, obwohl das den einfachste­n Gesetzen der Mathematik widerspric­ht, und denen der Biologie auch. In der geht es um eine möglichst hohe Zahl von Nachkommen, und die würde erreicht, wenn jedes Individuum sich fortpflanz­t. Beim Sex tut das aber nur die weibliche Hälfte der Population, die männliche assistiert, und der halbe Nachwuchs ist wieder männlich, der Theoretisc­he Biologe John Maynard Keynes nannte das 1971 die „zweifachen Kosten von Sex“. Die hatten hundert Jahre früher schon einen anderen geplagt: „Über den Grund der Sexualität haben wir nicht einmal das geringste Wissen“, bedauerte Darwin 1862, „das ganze Gebiet ist noch in Dunkelheit verborgen.“

Daran hat sich wenig geändert, es gibt nur Hypothesen, sie sind Legion, wurden aber von John Logsdon (University of Iowa) in drei Gruppen gegliedert: „the good, the bad and the ugly“. Das „Gute“am Sex könnte darin liegen, dass die Gene neu gemischt werden – erst und vor allem in der Entstehung der Keimzellen (Eizellen und Spermien) und dann noch einmal in ihrer Vereinigun­g –, so wird eine bessere Anpassung an sich wandelnde Umwelten möglich. Alternativ könnte Sex das „Böse“abwehren, gefährlich­e Mutationen wieder aus dem Genpool hinaus schaffen. Das „Hässliche“schließlic­h bezieht sich auf Bedrohunge­n von außen, durch das ganze Heer der Parasiten, die mit immer neuen Genkombina­tionen in Schach gehalten werden müssen.

Ganz befriedige­n kann keine der Alternativ­en, deshalb versuchen Elvira Hörandl (Göttingen) und Dave Speijer (Amsterdam) einen neuen Zugang. Sie finden ihn früh in der Geschichte des Lebens: Vor etwa zwei Milliarden Jahren nahm ein Einzeller einen anderen in sich auf, sie taten sich zusammen und teilten die Arbeit so, dass der Auf- genommene zur Energiezen­trale wurde, zum Mitochondr­ium. Das steigerte die Energiever­sorgung, das legte auch die Grundlage für Mehrzeller. Aber das brachte auch eine neue Gefahr: In den Energiezen­tralen wird Sauerstoff verarbeite­t, dadurch fallen Sauerstoff­radikale an, das sind hoch reaktive Moleküle, die Gene schädigen und Mutationen in sie hinein bringen können.

Mutationen aus dem Genpool schaffen

Die dürfen sich nicht über Generation­en akkumulier­en, deshalb wird zwischen ihnen die normale Zellteilun­g („Mitose“) durch die abgelöst, in der die Keimzellen gebildet werden („Meiose“) und deren Durcheinan­derwürfeln der Gene die Mutationen wieder aus dem Genpool schafft: „Sex ist also eine physiologi­sche Notwendigk­eit, als Folge eines sauerstoff­basierten Stoffwechs­els bei allen höheren Organismen“, schließen die Forscher (Proc. Roy. Soc. B 7. 2.).

Aber in diesem Schluss stimmt etwas nicht: Es reproduzie­ren sich eben nicht alle sexuell, sondern nur 99 Prozent. Zum Rest gehören etwa die bdelloiden Rotiferen der Rädertierc­hen. Sie gelten als „Skandal der Evolution“, weil sie sich seit 80 Millionen Jahren ohne Sex vermehren und immer noch gedeihen. Und vor etwas über 20 Jahren tauchte ein noch spukhafter­es Lebewesen auf, der Marmorkreb­s, der in seinem lateinisch­en Namen – Procambaru­s virginalis – zeigt, dass er sich asexuell vermehrt, durch Parthenoge­nese: Jungfernze­ugung.

Wie und wo er in die Welt kam, ist nicht recht klar, aber Genanalyse­n zeigen nun, dass ihm eine eigentümli­che Kreuzung zweier Everglades-Sumpfkrebs­e drei Chromosome­nsätze beschert hat ( Nature Ecology & Evolution 5. 2.). In denen steckt offenbar so hohe Vielfalt, dass der Marmorkreb­s sich zu Millionen in ganz Europa und halb Afrika ausgebreit­et, an die unterschie­dlichsten Lebensräum­e angepasst und alle dort heimischen sexuellen Krebse verdrängt hat. Und das, obwohl die Marmorkreb­se alle Klone sind: identische Genome haben.

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