GABRIELE REITERER
Heuer im Mai steigt hier in Dakar die Dak’Art, wichtigster Umschlagplatz des afrikanischen Kunsthandels. Drüben vor der Stadt aber, auf der ehemaligen Sklaveninsel Gor´ee, im Museum Maison des Esclaves, ist zu besichtigen ein anderer Umschlagplatz: jener
Geboren 1963 in Meran. Studierte Kunst-, Architekturgeschichte in Wien, New York und an der ETH Zürich. Dr. phil. Gastdozentur an der Bauhaus-Universität Weimar. Architekturjournalistin in Wien. 2016 im Birkhäuser Verlag: „Michaela Schweeger – Raum und Gestaltung“.
Feuerrote Streifen ziehen am Himmel, Wolkenozeane schimmern am Horizont. Dahinter leuchtet die sinkende Sonne. Dakar liegt am westlichsten Punkt des afrikanischen Kontinents und siedelt sich als westlicher Mythos zwischen Autorallye und afroeuropäischer Metropole an. Rasterartig legt sich die Stadt über die ins Meer ragende Felsspitze des Cap Vert, das wie ein seitwärts gebogener Schnabel in den Atlantik ragt. Immer weht der leichte Wind vom Atlantik.
Dakar ist facettenreich im urbanen Charakter, reizvoll großstädtisch und dörflich zugleich. Die großzügige Besiedlung der Corniche, deren niedrige Häuser in idyllischer Lage das Meer säumen, ähnelt südeuropäischen Vororten, während Stadtviertel wie das Plateau im Raster angelegt sind. Im Plateau findet sich die einstige Kolonialarchitektur mit ihren niedriggeschoßigen Bauten, mitunter farbig und zumeist in schlechtem Zustand.
Dazwischen Bauten aus den Sechzigerjahren, die nach der Unabhängigkeit Senegals im Jahr 1960 – der Dichter Leopold´ Se-´ dar Senghor wurde zum ersten Präsidenten der unabhängigen Republik Senegal gewählt – zahlreich emporschossen. Vor allem um die Place de l’Independance´ stehen Hochhäuser, deren Fassaden, skulptural ausgestaltet, Anlehnungen an die italienische und lateinamerikanische Architektur jener Zeit bilden. Auch der sudanesische Baustil mit seiner ausgeprägten speziellen Skulpturornamentik bildete eine Vorlage für das damalige neue Bauen in Dakar. Dakar heute, das ist: eine urbane und architektonische Mixtur aus Alt und Neu, eine heiße Melange aus Planung und Zufall.
Die Bezeichnung „Dakar“stammt von den Wörtern „Daxar“oder „Dekraw“aus der Sprache der Wolof. Ersteres bedeutet Tamarindenbaum und Letzteres Zuflucht, was sich möglicherweise auf die Lage der geschützten Hafenbucht bezog. Angeblich waren es Mitglieder des Stammes der Lebou, die erstmals das Cap Vert besiedelten. 1750 gab es die erste Erwähnung einer Besiedelung der Gegend um das heutige Hafengebiet.
1845 wurde eine französische Missionsstation errichtet, sie kennzeichnete den Beginn der urbanen Entwicklung Dakars. Ein Fort, Hafen, Handelshäuser, Faktoreien entstanden im Plateauviertel, dem heutigen Zentrum Dakars. Der Bau einer Eisenbahnlinie nach Saint-Louis und des Hafens als Flottenstützpunkt markierten den Beginn des Aufschwungs im kolonialen System; Frankreich verlegte 1907 den Sitz der Kolonialverwaltung für Westafrika von Saint-Louis nach Dakar. 1923 wurde die Bahnlinie nach Bamako, der Hauptstadt Malis, gebaut.
Dakar gilt als kultureller Mittelpunkt des afrikanischen Kontinents. Leopold´ Sedar´ Senghor, der einstige Dichterpräsident, die politisch-kulturelle Lichtgestalt, stellte der Francite´ die Negritude´ entgegen. Die literarische, philosophische und kulturelle Strömung trat für die kulturelle Selbstbehaup- tung Afrikas ein. So findet denn auch in Dakar alle zwei Jahre die Dak’Art, die afrikanische Kunstbiennale, statt (heuer vom 3. Mai bis zum 2. Juni). Für die afrikanische Gegenwartskunst ist die Veranstaltung seit 1990 ein Zentrum des kulturellen Geschehens und wichtigster Umschlagplatz des Kunstmarktes. Die Eröffnung bildet stets den Auftakt zu einem vierwöchigen beeindruckenden Spektakel, das beinahe rund um die Uhr läuft. Die Dak’Art soll dem Austausch und dem Transfer afrikanischer Kunst dienen. Ausstellungen, Modeschauen und Tanzveranstaltungen lassen in diesen Wochen die Stadt vibrieren.
Immer noch leidet die afrikanische zeitgenössische Kunst unter einem ausgeprägten Gefühl der Minderwertigkeit. Dies gründet in einer hartnäckigen Identität klischeehafter Fantasien von ursprünglichen und sinnlichen Sehnsüchten: Immer war der Kontinent eine Projektionsfläche der Exotisierung. Sigmund Freud beschwor Afrika einst als geheimnisvolles, unentdecktes, ursprüngliches Gebiet, dessen Weite und unbekannte Tiefe auch Angst auslöste. „Inneres Afrika“nannte Freud das Unbewusste des Menschen, der „dunkel lockende“Kontinent als eine Art Ur-Psychoanalyse? Tania Blixen erzählte von ihrer Farm am Fuße der NgongBerge, wo sie am Abend vor dem Ersten Weltkrieg im kolonialen BritischOstafrika ihre äußere und innere Freiheit lebte. Ungeachtet aller Mythen besitzt das Land tatsächlich eine sinnliche Urkraft. Die Farben Westafrikas sind unvergleichlich. Gelb und orange, ocker, golden und rötlich schimmernd mischt sich das Kolorit der Erde mit dem strahlenden Blau des Atlantiks. Das Licht ist berückend. Es lässt die Farben leuchten, strahlen, bringt sie förmlich zum Glühen. Als Paul Klee zu Beginn des Jahrhunderts von seiner afrikanischen Reise zurückkehrte, waren seine Sinne vollkommen überwältigt. „Es dringt so tief und mild in mich hinein“, notierte Klee, „die Farbe hat mich. Sie hat mich ganz.“
Reenchantements, Wiederverzauberungen, die ebendiesen Blick Europas auf den Mythos Afrika beschwören, sind gerne Thema von künstlerischen Veranstaltungen wie jener der Hauptausstellung der Dak’Art im vorvorigen Jahr. Ob nun Klischee oder nicht, ein geschicktes Spiel mit Mythos und Projektion, dies bleibt offen. Das Interesse an afrikanischer Kunst ist bei Europäern generell groß, aber welches Afrika ist damit eigentlich gemeint? Ein seltsames Gefühl macht sich breit, wenn sich ein französisches Paar im Mercedes mit Fahrer aus dem Park des Musee de l’Art Africain chauffieren lässt. Durch die getönten Scheiben des klimatisierten Wagens dringt weder die sengende Hitze, noch kann die grelle Sonne der hellrötlichen Haut der Frau etwas anhaben. Ein Besuch im Reich der afrikanischen Kunst, vielleicht sind es Besitzer einer Kunstgalerie oder Kunsthändler auf der Schau nach den neuen Tendenzen, vor al- lem solchen, die sich in Europa gut verkaufen lassen. „La cite´ dans le jour bleu“: Das Thema der Dak’Art 2016 bezog sich auf ein Gedicht von Senghor und beschwor die Ne-´ gritude. 2018 will die Dak’Art, wiederum unter der Direktion von Simon Njami, in Anlehnung an Texte von Aime´ Cesaire´ von Freiheit und Verantwortung sprechen.
Aus dem Französischen Kulturinstitut in Dakar tönt bereits am Nachmittag Musik. Der Lärm der Straßen versinkt im Garten, eine verlangsamte Gleichgültigkeit stellt sich ein. Flag, das leichte Bier, bereits am frühen Nachmittag genossen, tut das Übrige. Mit ein wenig Vorstellungskraft lässt sich die Zeit zurückdrehen. Wie war es einst, als die Herren ihre Klubs aufsuchten, um unter sich zu sein: Besitzer über Land und Menschen in den Enklaven ihrer Kultur und ihrer Sitten. Ein spezieller Reiz lag der Bindung zu den Kolonien zugrunde und prägte eine Mischung aus Autorität, Macht, Verachtung und eigenwilliger Romantik. Die Großwildjagd, Fantasien von Freiheit und Abenteuer, auch Rebellion und Individualität waren Projektionen, mit denen das Bild Afrikas dem westlich-europäischen Denken einverleibt wurde.
In der Avenue Lamine Gu`eye liegt am Eck, face a` la cathedrale, ein Cafe.´ Das Cafe´ Laetitia oder Lutetia,´ der tatsächliche Name ist nicht ganz auszumachen, ist ein kleines Juwel. Es ist weder räumlich noch atmosphärisch einer gestalterischen Richtung zuordenbar. Zeitlich lässt es sich eindeutig, in unseren Kategorien mitteleuropäischer gestalterischer Zuordnung, in die späten 1960er-Jahre stellen. Der Grundriss ist hakenförmig, mit räumlichen Flanken links und rechts. Vorne steht eine riesige Vitrine mit Kuchen, Torten und verschiedenem Backwerk. Der The´ a` la menthe kommt in kleinen Silberkännchen. Im Lutetia´ lässt es sich die Zeit herrlich vertreiben.
Weiter am Kermel-Markt wuselt es an den Ständen mit Obst und Kräutern: Rufe, Gewirr und sinnesbetörende Düfte. Ein vollkommen anderes Szenario herrscht im Cafe´ im Patio eines Baus aus den 1930er-Jahren. Hier gibt es Gerichte der senegalesischen Küche, die aus viel Fisch und Getreide besteht. Während es draußen von Menschen wimmelt, Wolof-Hip-Hop aus den Autos wummert und größte Hektik herrscht, ist hier Ruhe eingekehrt. Auf dem Obergeschoß, genau genommen ein Flachdach mit Seitenwänden, sind riesige Planen gespannt, die als textiles Dach den Raum gestalten. Dakar ist die Modemetropole des afrikanischen Kontinents. Einige Nähmaschinen stehen herum, Stoffballen liegen auf dem Boden. Die gewachsten Gewebe sind von strahlender, barocker Leuchtkraft. Ansonsten ist der große Raum leer. Durch die Öffnungen zwischen den Planen und dem Mauerwerk dringen Sonnenstrahlen. Sie zaubern ein Lichtornament aus schmalen Balken über den geometrisch gemusterten Fliesenboden. Ein kleiner Bub beschäftigt sich selbstvergessen im Spiel. Plötzlich kommt er näher und weist mit der Hand in eines der improvisierten Modeateliers nebenan. Eine junge Frau präsentiert ein blusenartiges Oberteil, dessen geraffte Fülle und gepuffte Ärmel nach unserer Vorstellung jede Gestalt zu einem unförmigen Wesen verunstalten. Sie trägt es mit unvergleichlicher Grandesse und Körperhaltung, die aus der barocken Stofffülle eine hinreißende Inszenierung schaffen. Mit wenigen gekonnten Bewegungen zeigt sie, wie aus einer meterlangen Stoffbahn ein Rock gewickelt wird.
Vor Dakar liegt die Ile de Goree.´ Die Insel besitzt traurige Berühmtheit. Ein kleines Haus beherbergt ein Museum, Maison des Esclaves. Es ist das ehemalige Haus eines Sklavenhändlers. Viele dieser Bauten sind auf Goree´ erhalten, und es ist zu erahnen, welch Entsetzen dieses düstere Kapitel der Geschichte schrieb. Im Erdgeschoß des Hauses liegen kleine Räume mit vergitterten Fenstern. Hier wurden die Menschen wie Tiere gehalten, bevor das Schiff sie in ihre lebenslange Gefangenschaft brachte. Auf Goree´ befand sich ein großer Sklavenumschlagplatz der afrikanischen Küsten. Die Geschichte der Insel oszilliert zwischen Mythos und realen historischen Fakten. Goree´ wirkt heute mit seinen bunten Kolonialhäusern überaus anziehend. 1978 wurde die ehemalige Sklaveninsel von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt.
Auf dem Weg nach Saint-Louis geht es durch das westafrikanische Land. Die reale Welt des afrikanischen Kontinents zeigt sich in ihrer unerbittlichen Gestalt. In kleinen Siedlungen liegt auf dem sandfarbenen Boden überall Müll, stehen garagenähnliche Bauten, halb fertig. Baustellen und wieder Baustellen. Bauten, die gleichsam wieder in sich zerfallen wollen.
Zugleich, ja, berührt hier die vielfältige Schönheit der Landschaft. Mitunter scheint sie schwebend, traumverloren und nicht real, ein Waste Land archaischer, grenzgängerischer Welten, strauchelnd in rissiger Erde, ringsum nur flacher Horizont. Die westafrikanische Landschaft verströmt Schönheit und Härte und Brutalität zugleich. Die Hitze und Trockenheit des Tages kann sich binnen Minuten in ein Schwemmland verwandeln, zeitweise regnet es sturzflutartig.
Weiter an der Küste in der ehemaligen Hauptstadt Französisch-Westafrikas zeigt sich die patinierte Pracht der einstigen Anlage. Saint-Louis ist eine berückende atmosphärische Melange aus afrikanischer Realität und glanzvoll verblichener Kolonialstadt. Immer wieder und nicht ganz korrekt Gustave Eiffel zugeschrieben, verbindet die sensationelle Schwenkbrücke Pont Faidherbe eine lagunenartig vorgelagerte Insel mit dem Festland.
Und überall meckernde Ziegen. Allerorten tummeln sich die Tiere, lugen hinter den Häusern hervor, spazieren auf den Straßen und scheinen die geheimen und wahren Bewohner der Stadt zu sein.
„Es dringt so tief und mild in mich hinein“, notierte Paul Klee nach seiner Afrikareise überwältigt, „die Farbe hat mich. Sie hat mich ganz.“