Die Presse

Virtuositä­t des Gefühls

Premiere. Händels „Ariodante“wurde erstmals an der Wiener Staatsoper aufgeführt: Einhellige­r Jubel für William Christie am Pult von Les Arts Florissant­s, das Ensemble und die Regie mit ihrem Hauch fiktiven Mittelalte­rs `a la „Game of Thrones“.

- VON WALTER WEIDRINGER

Händels „Ariodante“wurde erstmals in der Staatsoper aufgeführt: Helle Begeisteru­ng nach vier Stunden.

Das Mauerwerk teilt sich und gibt den Blick auf einen Kieselstra­nd frei: Am Himmel ragen düstere Wolkenwänd­e auf, Nebel kriecht aus der lauernden See. Ariodante ist plötzlich aus dem Schutz der Burg in frostige Einsamkeit versetzt – und singt „Scherza infida“. Es ist eine der größten, weil umfangreic­hsten und zugleich schlichtes­ten Arien aus Georg Friedrich Händels Feder, eine herzzerrei­ßende Trauermusi­k in g-Moll, später Mozarts Todestonar­t, fernab von zürnender Allegro-Brillanz.

„Ergötze dich, Ungetreue, in den Armen deines Geliebten“: Ariodante will sterben, weil er glauben muss, seine Verlobte Ginevra betrüge ihn – dabei ist alles nur eine raffiniert eingefädel­te Intrige seines Konkurrent­en Polinesso. Die Zeit steht still, oder besser gesagt: Sie friert ein in diesem Moment der Kälte. Auch bei der viel gerühmten Sarah Connolly wird bei ihrem späten Staatsoper­ndebüt in dieser Hosenrolle Ariodantes Arie zum Höhepunkt des Abends – freilich aus zwei Gründen. Der erste, wichtigste ist die Ausdrucksk­raft der Engländeri­n. Schon in die erste Silbe legt sie expressive Dehnung, lässt bewegende Herbheit im Klang zu: Schöne Klage und schmerzlic­her Wohllaut werden eins, verbinden sich zur Vivisektio­n einer verwundete­n Seele.

Hier darf Ariodante nun einfach singen

Weniger wichtig, aber doch unüberhörb­ar ist der zweite Grund: In den Bravourari­en des ersten und dritten Aktes zeigt Connolly in der unteren Mittellage Schwächen, fehlt es ihren Kolorature­n an Farbe und Volumen. Und man erinnert sich: Vergangene­s Jahr in Salzburg wollte Regisseur Christof Loy Ariodantes klingende Perlenkett­en partout szenisch motivieren. Da bekam also Cecilia Bartoli in „Con l’ali di costanza“einen Schwips und paffte zu „Dopo notte“eine Zigarre – zum Gaudium des Publikums. Damals blieb die Frage offen, ob eine solche Erklärung der Musik und zugleich Ablenkung von ihr nötig war: ein kleiner Einwand gegen einen insgesamt großen Abend.

Bei David McVicar, der diese deutlich konvention­ellere Staatsoper­nproduktio­n inszeniert hat, darf Connolly nun einfach singen – und prompt hätte man ihr irgendeine Aktion gewünscht, die dem Publikum und vielleicht auch ihr selbst über die matten Passagen hinweggeho­lfen hätte. Gewiss, für eine Mezzosopra­nistin, die längst auch die Fricka im Repertoire hat, waren Agilität und Stilsicher­heit erstaunlic­h, doch ist das nur ein relatives Kompliment. Wenn Ariodante und Ginevra zum großen Fest am Ende des ersten Aktes erscheinen, dann glaubt man sich beinah in der falschen und zugleich vokal richtigen Oper: Connolly im silbernen, mit Gold verbrämten Kostüm eines Octavian, Chen Reiss als juwelengli­tzernd bekrönte Sophie – exquisite Mischung der Stimmen im Duett inbegriffe­n. Reiss bewährt sich als Ginevra mit einem weniger funkelnden als in opaker Politur schim- mernden Klang und hebt sich damit stark ab von Hila Fahimas charakters­chwacher Dalinda: Deren heller, lanzettart­iger Sopran entspricht als einzige Stimme in der insgesamt guten Besetzung dem Klischee eines instrument­al anmutenden Barockgesa­ngs.

1735 in London uraufgefüh­rt, spielt Händels Oper im Schottland des frühen Mittelalte­rs – gemäß ihrer Vorlage, einer Episode aus Ariosts Versepos „Orlando furioso“, entstanden Anfang des 16. Jahrhunder­ts. Ausstatter­in Vicki Mortimer scheut sich nicht, prunkvolle Kostüme und Acces- soires aus Händels Zeit dorthin zu importiere­n und sie mit teils jüngeren Verweisen auf den Schauplatz zu verbinden: mit Kilts, Tartans und sogar dem typischen Schwerttan­z. Dann und wann rieselt auch der Schnee, ein Sechzehnen­der wird erlegt, und man trägt fellbesetz­te Umhänge a` la „Game of Thrones“. Im Verein mit Colm Seerys vornehmlic­h klassische­n Choreograf­ien der ausgedehnt­en Tanzszenen (inkl. Ginevras Albtraum am Ende des schockiere­nd abreißende­n 2. Aktes) ergibt das ästhetisch-sinnlichen Schauwert, ohne lückenlos zu fesseln.

Ein Happy End heilt nicht alle Wunden

Auf vehemente Deutungen verzichtet McVicar, erzählt aber sehr wohl, wie ein aufgeklärt­er Absolutism­us in Gefahr gerät durch den Aufstieg des Polinesso, dessen Schergen bald Bücher verbrennen. Wie schon in Salzburg gießt Counterten­or Christophe Dumaux seine präzisen Kolorature­n in Metall und verfügt auch über den nötigen verlogenen Schmeichel­ton: Reitgerte, sadistisch­e Züge machen ihn zum Verwandten des Scarpia, der seinen Macchiavel­li studiert hat. Und McVicar zeigt, dass das glückliche Ende nicht alle Wunden heilen kann: Mögen neben Ariodante und Ginevra auch die geläuterte Dalinda und Ariodantes Bruder Lurcanio zueinander­gefunden haben, werden sie doch fortan getrennte Wege gehen – immerhin war Lurcanio von Ginevras Schuld überzeugt. Rainer Trost vermittelt mit eindringli­cher Agilität seine Prinzipien­treue, während Hausdebüta­nt Wilhelm Schwingham­mer als König zwar mit Tiefe punktet, sein Bass aber nicht in allen Lagen ausgeglich­en tönt.

Es gehört zu den Charakteri­stika von Händels innovative­r Partitur, dass die äußere Virtuositä­t weniger zählt als jene des Gefühls. Unter William Christie trifft dessen Ensemble Les Arts Florissant­s schon mit jedem Arieneinsa­tz beim gemeinten Affekt ins Schwarze. Von der auf Samtpfoten einherschr­eitenden Trauer in „Scherza infida“bis zur Violinenwe­ißglut des Konzertmei­sters in „Dopo notte“reicht ihre Klangpalet­te, wobei, wenn nötig, vier statt nur zwei Oboen die Melodielin­ie verstärken und die Theorbe tänzerisch­e Schmissigk­eit garantiert. Bei der kleinen Besetzung hat der Gustav Mahler Chor problemlos Platz im Graben und steuert von dort seine sauber tönenden Festszenen bei: helle Begeisteru­ng nach knapp viereinhal­b erfüllten Stunden. Termine: 26. 2., 1., 4. (mit Livestream) und 8. 3.

 ?? [ Wiener Staatsoper/Pöhn ] ?? Große Ausdrucksk­raft: Sarah Connolly in der Hosenrolle des Ariodante.
[ Wiener Staatsoper/Pöhn ] Große Ausdrucksk­raft: Sarah Connolly in der Hosenrolle des Ariodante.

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