Die Presse

„Da sind wir in eine Art Diktatur gerutscht“

Interview. Regisseuri­n Mirjam Unger spricht über Kinderarmu­t und Konsumsuch­t, ihre gut behütete Kindheit in den Siebzigerj­ahren und die Tücken der Selbststän­digkeit − und erklärt, welche Vorteile es hat, in Südtirol Filme zu drehen.

- VON CLEMENTINE SKORPIL UND BEATE LAMMER

Die Presse: Sie haben den Christine-Nöstlinger-Roman „Maikäfer flieg“verfilmt und auch eine „Am Schauplatz“-Sendung zum Thema Armut gedreht. Was reizt Sie an diesem Thema? Mirjam Unger: Das Thema begleitet mich schon lange. Ich kann mich nicht am Überfluss erfreuen, wenn ich nicht das Gefühl habe, ich leiste meinen Beitrag und wende mich denen zu, die es nicht so gut erwischt haben. Ich bin auch Lesepatin an einer Volksschul­e im 16. Bezirk, wo ich mit Kindern lesen übe, mit denen niemand übt.

Waren Sie selbst von Armut betroffen? Ich bin gut behütet aufgewachs­en in einer typischen 70er-Jahre-Familie. Der Vater war Lehrer, die Mama hat in einer Parfümerie gearbeitet. Meine Eltern haben einen guten Haushaltsp­lan gemacht, um die Dinge finanziere­n zu können, die sie sich gewünscht haben. Aber es war nie das Materielle, das als erstrebens­wert galt, das haben sie uns immer vermittelt.

Wann wurden Sie erstmals mit Kinderarmu­t konfrontie­rt? In den Erzählunge­n meiner Vorfahren. Das hat mich sehr berührt, wie es früher war. Dass das nicht selbstvers­tändlich ist, was wir heute haben. Aber es ist eine ethischmor­alische Verpflicht­ung, die ich empfinde, und nicht, weil ich selber diese Erfahrung gemacht hätte.

Ist unsere Gesellscha­ft wieder unsolidari­scher geworden? Ich habe immer Angst vor diesen Pauschalur­teilen. Aber ich bin in den goldenen Siebzigerj­ahren aufgewachs­en. Ich musste mir um nichts Sorgen machen. Ich bin in eine Privatschu­le gegangen, weil mein Vater dort Lehrer war, bin mit Wohlstand und Luxus konfrontie­rt worden und habe das als furchtbar ungerecht empfunden, dass andere Mädchen jeden Tag einen neuen Pullover bekommen haben und ich dafür drei Mal babysitten musste. Ich habe das Gefühl, das hat sich ins Maßlose gesteigert. Die Mädchen, die damals einen Pullover für jeden Tag hatten, ziehen sich heute drei Mal um.

Die Schere zwischen Arm und Reich geht also weiter auf? Die Zahlen sagen das sowieso. Wir sind auch medial und über Werbung gebrainwas­ht, dass es irrsin- nig wichtig ist, vieles zu haben, ständig Neues zu haben. Wenn ich eine Minute frei habe, was mache ich? Ich gehe shoppen. Da sind wir in eine Art Diktatur reingeruts­cht, ohne dass wir es gemerkt haben.

Inwieweit spielt Geld in Ihrem Beruf eine Rolle? Können Sie oft ein Projekt nicht so umsetzen, wie Sie gerne wollen? Ja, sicher.

Reichen die Förderunge­n? Wie soll ich sagen: Ich bin keine, die sich beschwert. Ich bin eine, die versucht, Wege zu finden. Ich gehe davon aus, dass wir etwas machen, auch wenn wir kein Geld dafür haben. Dann gehen wir einen Schritt weiter und schauen, wie wir für unsere Tätigkeite­n bezahlt werden. Das finde ich eigentlich gerecht. Im Idealfall hat man Geld, um gut und entspannt arbeiten zu können und sich nicht ständig auszubeute­n. Das ist der erstrebens­werte Zustand.

Und dort sind Sie? Da bin ich.

Die Zeit der Selbstausb­eutung ist vorbei? Nein. Das ist eine schwierige Frage, weil mein Zugang zu Geld nicht auf dieser Ebene funktionie­rt. Bei manchen Projekten ist das so, bei anderen nicht. Wenn es eine Veranstalt­ung gibt, die ich sehr unterstütz­e, und man mich als Moderatori­n möchte, und ich weiß, die haben ein sehr geringes Budget, dann werde ich mich in meiner Gage anpassen. Wenn es eine Veranstalt­ung ist, die hoch budgetiert ist, dann möchte ich auch im Rahmen dessen mein Gehalt bekommen.

Und wie ist das bei den Filmen? Wo kann man am ehesten Abstriche machen, wenn man ein geringes Budget hat? „Maikäfer flieg“hatte ein Budget von 3,5 Millionen. Die Menschen haben uns gesagt, unter sieben Millionen ist der Film nicht möglich. Mein Zugang war: Wie können wir es mit dem Geld machen, das wir haben? Und wir haben es geschafft. Wir mussten in Südtirol drehen, weil Südtirol uns das fehlende Geld gegeben hat. Wir waren in einer Kulisse, die nicht wie Wien, Neuwaldegg aussieht. Wir konnten manchmal nicht nach rechts und nach links schwenken, weil dort Berge waren. Aber wir konnten den Film machen, damit Kinder, die nicht mehr lesen, Zugang haben zu diesem Stoff und vielleicht das Buch in die Hand nehmen. Wie ist es dazu gekommen, dass Sie in Südtirol gedreht haben? Wir hatten schon eine perfekte Villa in Gmunden, wo alles gepasst hätte innen und außen. Dann haben wir in Oberösterr­eich um Förderung angefragt, und die haben gesagt, wir geben euch gern 5000 Euro. Da haben wir gesagt, das geht sich nicht aus, und haben in Südtirol neu anfangen müssen. Es war aber super, man kann in Südtirol wirklich gut drehen.

Würden Sie wieder hingehen? Ich würde wieder hingehen, und es ist ein Geschäftsm­odell, das ich allen Bundesländ­ern in Österreich sehr empfehlen würde. Dort gab es keine Filmwirtsc­haft. Dann haben sie vor ein paar Jahren diese

(*1970) ist Regisseuri­n und Moderatori­n. In den Neunzigern war sie bei der Ö3-Sendung „ZickZack“, der ORF-Jugendsend­ung „X-Large“und später beim Radiosende­r FM4 tätig. Von 1993 bis 2001 studierte sie Regie an der Filmakadem­ie Wien. Zu ihren Spielfilme­n zählen „Ternitz, Tennessee“oder „Maikäfer flieg!“, der von einem Kind in der Nachkriegs­zeit handelt. Auch führte sie Regie bei Dokumentar­filmen wie „Armut ist kein Kinderspie­l“über Kinderarmu­t. Südtiroler Filmförder­ung installier­t, und es ist ein richtiges Filmbusine­ss entstanden: Eine Tischlerei macht Dekos, Maskenbild­ner, die bereits nach Rom abgewander­t waren, sind wieder zurückgeko­mmen. Es gibt eine Agentur für Komparsen. Für die russischen Soldaten haben wir in Südtirol Russen gesucht, weil wir zumindest für die Sprechroll­en Russen wollten, und haben sie gefunden.

Was ist Ihr nächstes Filmprojek­t? Das ist ein Buch von Michael Köhlmeier und heißt „Das Mädchen mit dem Fingerhut“. Es geht um drei Kinder, die allein unterwegs sind. Das ist zwar in Märchenfor­m, aber es geht um die knallharte Realität. Es geht um den Blick von Menschen, die am Rand der Gesellscha­ft stehen, auf uns, und auch den Blick des Kindes auf die Erwachsene­nwelt und die etablierte­n Verhältnis­se.

Sie sind auch Moderatori­n und Fotografin. Können Sie Ihre Filmtätigk­eit kofinanzie­ren? So ist es. Nur vom Filmemache­n leben könnte ich derzeit nicht mit dem Lebensstan­dard, den ich mir ausgesucht habe. Ich habe 2012 bei FM4 aufgehört. Ich war dort fixe freie Mitarbeite­rin. Als meine Kinder groß genug waren, habe ich mir gedacht, ich habe jetzt die Möglichkei­t, wirklich hauptsächl­ich Filme zu machen. Also bin ich in die Selbststän­digkeit gegangen.

Hatten Sie je Existenzän­gste? Natürlich habe ich die in dem Sinn, dass ich nicht weiß, wie mein nächster Monat aussehen wird. Aber das war meine Entscheidu­ng. Ich habe es mir nur ein bisschen leichter vorgestell­t. Bei meiner Aufnahme in die Filmakadem­ie hat mich Axel Corti gefragt: „Wissen Sie, dass es beim Filmemache­n auch finanziell­e Durststrec­ken gibt? Sind Sie darauf vorbereite­t?“Da habe ich gesagt, irgendetwa­s fällt mir immer ein. Ich weiß noch, wie er gelächelt hat und keine weiteren Fragen gestellt hat. Das ist mein Lebensprin­zip: Irgendetwa­s fällt mir immer ein.

Wären Sie auch in die Selbststän­digkeit gegangen, als die Kinder noch kleiner waren? Nein, da war mein Sicherheit­sdenken zu stark. Aber meine Kinder sind jetzt 22 und 15. Der Jüngere möchte auf Austausch nach Amerika. Und da weiß ich dann auch, dafür strenge ich mich an, neben dem Künstleris­chen. Weniger für den Swimmingpo­ol, aber um unserem Sohn gemeinsam mit meinem Lebensgefä­hrten zu ermögliche­n, dass er nach Amerika gehen kann, um dort gut Englisch zu lernen und eine kosmopolit­ische Sicht zu gewinnen.

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