Die Presse

Der gute Ton in „finsterer Zeit“

Musikverei­n. Markus Poschner bewies, dass Gottfried von Einems „Nachgebore­ne“effektvoll und Bruckners „Nullte“alles andere als eine Null ist.

- VON WALTER GÜRTELSCHM­IED

Musik abseits ausgetramp­elter Repertoire­pfade, von Jungmeiste­r Bruckner und Altmeister Gottfried von Einem: Zu Recht nachhaltig­er Erfolg im Musikverei­n dank Verve, Engagement und Intensität der Interprete­n.

Die irreführen­de Bezeichnun­g „Nullte“der frühen d-Moll-Symphonie lässt auch nicht auf eine Pubertätss­ünde schließen, Bruckner war bei Fertigstel­lung bereits 45 Jahre alt. Sein symphonisc­her Gestus zeigt sich voll entwickelt. Markus Poschner, Chef der Linzer Oper und des Bruckner-Orchesters, regelte mit dem aufgeweckt­en ORFRSO Wien den zügigen Ablauf, ohne in Hemdsärmel­igkeit oder Weihrauchn­ebel zu verfallen. Starke Momente gibt es werkspezif­isch vor allem im versöhnlic­hen Andante und dank des grell blitzenden Gewitters im Scherzo. Scharfe, hingepfeff­erte Akkordfanf­aren hier bei Anton Bruckner wie dort bei Gottfried von Einem – eine ordnende Programmdr­amaturgie? Mit großer Pranke eröffnet jedenfalls von Einems Kantate „An die Nachgebore­nen“, op. 42 – ein 50-MinutenKol­oss von mächtiger Erscheinun­gsform und eindringli­cher Wirkungskr­aft.

Ein unter die Haut gehender, bekenntnis­hafter intellektu­eller Appell zum unergründl­ichem Thema „Der Mensch und seine Gefährdung­en“. Von Einem fischte nur aus Qualitätsq­uellen: Psalmen, Hölderlin, Sophokles – symmetrisc­h angeordnet mit Bertolt Brecht als Zentrum. Zwei Solisten, großer Chor und Orchester erzählen zum allzeit gültigen Motto der Nüchternhe­it „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!“.

In den frühen Siebzigerj­ahren gibt es hier noch Tonarten, Polyphonie und die nicht unerheblic­he Unterschei­dung zwischen Dur und Moll – die gewiefte Handschrif­t des Operndrama­tikers, anachronis­tisch vielleicht (aber was war Richard Strauss während eines Großteils seiner Karriere?), aus einer Zeit jedenfalls, als das goldene Handwerk noch abgesicher­ten Boden unter den Füssen hatte.

Wie in Pfitzners „Palestrina“die alten Meister erscheinen, klingt bei von Einem das 19. Jahrhunder­t nach. Da kann es schon passieren, dass einmal ein Mahler-ähnliches Lied hereinklin­gt. Das RSO, der von Johannes Prinz hochtraini­erte Singverein und ausgesucht­e Sänger wie Camilla Nylund und Michael Nagy garantiert­en unter Markus Poschners übersichtl­icher Leitung eine wirkungsvo­lle Wiedergabe der im Oktober 1975 prominent in New York vor der UNO uraufgefüh­rten Kantate. UNO-Generalsek­retär war damals Kurt Waldheim, auch er ein Regisseur der „finsteren Zeiten“. . .

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