Die Illusion der Freiheit
Psychologie. Schon John Lennon sang von der Zigarette und verfluchte zugleich den Mann, der uns den Tabak gebracht hat. Das Rauchen illustriert – vielleicht noch mehr als andere Süchte –, wie brüchig das Konzept der Willensfreiheit ist.
Das Rauchen illustriert, wie brüchig das Konzept der Willensfreiheit ist.
Szene in einem Wiener Weinlokal. Am Stehtisch wird, wie so oft in diesen Tagen, übers Rauchen debattiert. Wenn es im Lokal verboten würde, sagt einer, wäre ihm das ganz recht, gerade als Raucher, dann würde er nicht so viel rauchen. Spricht’s – und zündet sich eine Zigarette an, zum offensichtlichen Missbehagen der dicht um ihn gedrängten Nichtraucher . . .
Will er oder will er nicht? Muss er? Wer ist stärker, er oder er? Schon 1968 sang John Lennon: „I’m so tired, I’ll have another cigarette – and curse Sir Walter Raleigh, he was such a stupid get.“Der englische Seefahrer Walter Raleigh (1554–1618) soll den Tabak aus Amerika mitgebracht haben, er war selbst starker Raucher, vor seiner Hinrichtung durch Enthauptung soll er noch eine Pfeife geraucht und dann gesagt haben: „Wenn das Herz am rechten Fleck ist, spielt es keine Rolle, wo der Kopf ist.“
Ein schönes Beispiel für Galgenhumor (respektive Scharfbeilhumor). „Das Großartige liegt offenbar im Triumph des Narzissmus, in der siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des Ichs“, erklärte Sigmund Freud diesen. Seine eigene Tabaksucht, die ihm jahrzehntelanges Leiden an Mundhöhlenkrebs brachte, kommentierte er schon als junger Mann: „Rauchen täglich, 25 x leider, aber wenn das Liebchen nicht da ist, braucht der Mensch eine Narkose . . .“
Präziser erklärte Freud später im „Unbehagen in der Kultur“die „Leistung der Rauschmittel im Kampf um das Glück und zur Fernhaltung des Elends“: „Man dankt ihnen nicht nur den unmittelbaren Lustgewinn, sondern auch ein heiß ersehntes Stück Unabhängigkeit von der Außenwelt.“
Nun, man wird das Nikotin kaum zu den echten Rauschmitteln zählen. Der „Flash“, den es bringt, die kurze Empfindung höherer Konzentration, verstärkt durch das geistige Schulterklopfen des Belohnungszentrums, ist bestenfalls die Schwundform eines Rausches. Entsprechend ist die Unabhängigkeit von der Außenwelt, die es bringt, nur gering – aber, so scheint es, für den Raucher essenziell. Die Illusion der Freiheit, die das Rauchen bringt, besteht im Grunde aus dem Satz, den Raucher verschwörerisch sagen, wenn sie eine Entscheidung oder eine Handlung kurzfristig verschieben: „Jetzt rauchen wir einmal eine!“Nur scheinbar gegensätzlich hat das einst eine österreichische Zigarettenwerbung formuliert: „Wenn das Abenteuer Pause macht.“
Die Rauchpause als Mini-Freiheit
Es ist genau die Zweckfreiheit des Rauchrituals, die seinen Reiz ausmacht. Und es zur Allround-Ersatzhandlung macht, nicht nur fürs Liebchen. Die fünf Minuten der Rauchpause als kleinste Zeiteinheit der Freiheit von der Pflicht (zum Abenteuer): Ist es ein Wunder, dass die Entscheidung dafür dem Raucher als kleiner Akt der Willensfreiheit vorkommt? Zugleich weiß er, dass sie auch das Gegenteil ist: Er muss ja rauchen, auch wenn er es nicht tun will. Umfragen ergeben, dass jeder zweite Raucher aufhören will – und nicht aufhören kann.
Nervöse Reaktion auf Rauchverbote
So illustriert das Rauchen – vielleicht noch mehr als andere Süchte –, wie brüchig das Konzept der Willensfreiheit ist. Man kann vielleicht tun, was man will, aber nicht wollen, was man will, erklärte Schopenhauer: Dem Raucher, der ja bei jeder Zigarette das Gefühl hat, dass er sie rauchen will (obwohl er eigentlich nicht rauchen will), ist das gut nachvollziehbar. Auch deshalb reagiert er so nervös auf Rauchverbote: Sie nehmen ihm eine Freiheit, von der er weiß, dass sie eigentlich keine Freiheit ist. Beides ist eine schwere Kränkung. Dazu kommt die dritte Kränkung durch das Wissen, das ihm die Schockbilder auf den Zigarettenpackungen drastisch vermitteln: dass sein Ich ganz und gar nicht unverletzlich ist und einen Lungenkrebs etwa kaum überstehen wird.
Eine Entscheidung ist nur dann wirklich frei, wenn die Motive dafür und dagegen genau gleich stark sind, sagte Schopenhauer – und gab das Beispiel vom Esel, der hungrig genau in der Mitte zwischen zwei Heuhaufen steht und sich nicht entscheiden kann. Klingt einleuchtend. Allerdings werten wir die Motive gemeinhin unterschiedlich, un- terscheiden niedere und höhere: So sehen wir einen Menschen, der aus Hass oder Gier mordet, als weniger frei als einen, der dem sechsten Gebot, dem kategorischen Imperativ oder seiner eigenen Moral folgt.
Ähnlich betrachten wir den Süchtigen – obwohl seine Sucht genauso ein Motiv ist wie der vernünftige Vorsatz, einen Entzug auf sich zu nehmen – als unfrei, egal ob er von Alkohol, Nikotin oder Opiaten abhängig ist. In der Drogeneuphorie der Sechzigerjahre war das anders: Da war vielen das Suchtpotenzial und/oder die Schädlichkeit der (in unserer Kultur meist neuen) Drogen noch nicht bekannt, dafür hatten sie das Flair der Freiheit – gegen die Zwänge einer repressiven Gesellschaft, die den (vor allem jungen) Individuen die Lust der bunten Räusche nicht gönnen will. Dieses Flair ist heute nur mehr in Spuren zu spüren.
Tabak galt nie als Aussteigerdroge. Doch auch beim Rauchen läuft derzeit ein Match zwischen zwei Vorstellungen von Freiheit. Die eine – der Marlboro-Mann, der sich durch die hustende, keppelnde Umwelt nicht in seiner Rauchfreiheit stören lässt, sondern ihr Rauchringe blasend davonreitet – schwindet zusehends; die andere – freudianisch formuliert: das Über-Ich, das das Ich von der Sucht befreit – setzt sich durch.
Und damit ein echtes Stück Unabhängigkeit von der Außenwelt: die Freiheit etwa vom Zwang, für ein Packerl Zigaretten meilenweit gehen zu wollen.