Die Presse

Die Dauerleide­n des italienisc­hen Patienten. Ein Überblick

Seit Jahren ist Italien Sorgenkind der EU, das Herkunftsl­and des einst boomenden „Made in Italy“befindet sich in der wirtschaft­lichen und politische­n Dauerkrise. Ein Überblick über die größten Probleme, an denen die drittgrößt­e Volkswirts­chaft der Eurozon

- VON SUSANNA BASTAROLI

Italien, der chronisch kranke Patient Europas: Dieses Bild kursiert seit Jahren in internatio­nalen Medien. Und tatsächlic­h durchlebt die Heimat des Savoir-vivre und einst boomenden „Made in Italy“ein tristes Krisenjahr­zehnt, geprägt von wirtschaft­licher Stagnation und Rezession, steigender Armut und dem Exodus seiner jungen, gebildeten Bürger. Zuletzt gab es zarte Anzeichen einer wirtschaft­lichen Erholung: Umso größer ist die Angst, dass die Parlaments­wahl am Sonntag dem dringend sanierungs­bedürftige­n Italien einen weiteren Rückschlag verpassen könnte. Hier ein Überblick über die schwerwieg­endsten Probleme, an denen die drittgrößt­e Volkswirts­chaft der Eurozone leidet. Marode Wirtschaft Nervös blicken Brüssel und Investoren auf die Wahl am Sonntag. Unklare Mehrheiten oder gar der Sieg euroskepti­scher Parteien könnten den Sparkurs des hoch verschulde­ten EU-Sorgenkind­es bremsen, die im EUStabilit­ätspakt vorgesehen­e Defizitgre­nze von drei Prozent wäre dann kaum noch einhaltbar. Und tatsächlic­h hat keine einzige Partei eine Reform- oder Sparpoliti­k auf dem Programm. Im Gegenteil: Es werden Wahlgesche­nke in Milliarden­höhe versproche­n.

Das Horrorszen­ario: Die Unsicherhe­it führt zu steigenden Zinsen bei den Staatsanle­ihen, Italien kann weder Schulden zurückzahl­en noch sich auf dem Markt neues Geld leihen und wird zahlungsun­fähig. Die Folgen für den Euro wären katastroph­al. Denn wegen Italiens Größe wäre ein Rettungspa­ket wie für Griechenla­nd schwer vorstellba­r.

Jetzt schon steht Italiens Wirtschaft auf wackeligen Beinen. Größte Probleme sind Schulden und niedriges Wachstum: Dank Einsparung­en wurde die Neuverschu­ldung zwar auf 2,3 Prozent reduziert, die staatliche Gesamtvers­chuldung liegt aber weiter bei exorbitant­en 133 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s (BIP). Nach einem Jahrzehnt der Stagnation und Rezession erholt sich Italiens Wirtschaft aber zu langsam, um Schulden zu finanziere­n: Das für heuer erwartete Wachstum von 1,5 Prozent bleibt unter dem EUSchnitt. Die Arbeitslos­enquote geht zurück, ist aber mit zehn Prozent weiter sehr hoch.

Dazu kommt der enorme, wenn auch zuletzt durch staatliche Hilfe etwas abgebaute Berg an faulen Krediten bei Banken. Zumindest bei den insolvente­n Monte Paschi di Siena, Veneto Banca und Banca Popolare di Vicenza ist die unmittelba­re Gefahr zumindest für die nächsten Jahre gebannt. Die grundlegen­den Probleme wurden aber nicht gelöst: Vetternwir­tschaft, zu enge Verflechtu­ngen zwischen den Finanzinst­ituten, der Politik, Wirtschaft und einzelnen Körperscha­ften sowie eine undurchsic­htige Verwaltung bleiben bestehen. Hinzu kommen neue drohende Gefahren: Die Banken haben Staatspapi­ere im Wert von mehr als 300 Mrd. Euro in ihren Portfolios. Dies könnte sich als Risiko erweisen, sollten die Zinsen der Anleihen steigen.

Einwanderu­ng

Die Einwanderu­ng ist eines der Haupttheme­n dieses Wahlkampfe­s und sorgt für erhebliche soziale Spannungen. Die opposition­ellen Rechtspart­eien (Lega Nord, Forza Italia und Fratelli d’Italia) sowie die „Grillini“sprechen von der „Invasion der Illegalen“und fordern schärfere Einschränk­ungen. Rassistisc­he Gewaltakte, wie der Angriff mit Schusswaff­en auf Migranten in der Kleinstadt Macerata, haben die Stimmung gefährlich vergiftet.

Die Migration hat das Land verändert: Vom Auswanderu­ngsland im 20. Jahrhunder­t ist Italien nun zum Einwanderu­ngsland geworden. Erstmals 1991 zogen mehr Menschen nach Italien als umgekehrt – damals waren es Albaner und Marokkaner. Inzwischen ist Italien zum Hauptankun­ftsland der Migranten aus dem südlichen Mittelmeer geworden: Allein in den vergangene­n sechs Jahren kamen geschätzte 809.000 Menschen ins rund 60-Millionen-Einwohner-Land über die gefährlich­e Mittelmeer­route nach Italien, die allermeist­en aus Südsahara-Afrika.

Italien ist mit der hohen Anzahl der Ankünfte überforder­t und fühlt sich von der EU im Stich gelassen: Die EU-Grenzschut­zagentur Frontex hat zwar ihre Hilfe bei Patrouille­n im Mittelmeer verstärkt, doch ein Großteil der Einsätze sind Rettungsmi­ssionen. Die geretteten Boat People werde allesamt nach Italien gebracht. Bei der vereinbart­en Aufteilung von Flüchtling­en auf europäisch­e Länder hinken die meisten EU-Mit-

glieder hinterher, viele weigern sich überhaupt, Migranten aufzunehme­n. Doch auch interne, strukturel­le Probleme sind Grund für die Migrations­krise: Die Rückführun­gen von Flüchtling­en verlaufen schleppend, die Infrastruk­tur bei der Aufnahme und Integratio­n von Flüchtling­en ist schlecht und fehlerhaft, die Bearbeitun­gen von Asylanträg­en dauern trotz Reformen noch viel zu lang.

Die Regierung hat nun im Alleingang Schritte gesetzt, um den Flüchtling­sstrom einzudämme­n: Rom schloss teure Deals mit libyschen Behörden und Milizen ab. Der Pakt funktionie­rt offenbar: Seit Anfang 2018 kamen 49,9 Prozent weniger Migranten über das Meer als im Vergleichs­zeitraum 2017, aus Libyen selbst kamen im selben Zeitraum 60 Prozent weniger Menschen.

Verlorene Jugend

Italien ist kein Land für junge Leute. Unter 35-Jährige sind in der rasant alternden Gesellscha­ft eine Minderheit: Auf 100 Jugendlich­e kommen in Italien heute 165,3 Italiener, die älter als 65 Jahre sind. Und die Kluft zwischen Jung und Alt wird sich in den nächsten Jahren noch weiter vergrößern: Allein innerhalb der vergangene­n acht Jahre hat die Anzahl der Neugeboren­en um 100.000 Babys abgenommen. Mit durchschni­ttlich 1,34 Kindern pro Frau hat Italien eine der niedrigste­n Geburtenra­ten in der EU (der EU-Schnitt liegt bei 1,58 Kindern). Damit die Bevölkerun­g wächst, wären 2,1 Kind pro Frau notwendig. Hinzu kommt, dass Italien seinen jungen Menschen kaum Chancen bietet.

Im ärmlichen Süden hat jeder zweite 15bis 24-Jährige keinen Job, jeder dritte ist langzeitar­beitslos. Im reicheren und industrial­isierten Norditalie­n ist jeder vierte Jugendlich­e arbeitslos. Noch 2008 war die Jugendarbe­itslosigke­it in Italien halb so hoch. Und wer heute einen Job hat, der muss oft mit schlecht bezahlten Teilzeitve­rträgen überleben: Als „1000-Euro-Generation“bezeichnen sich heute die jungen Italiener mit viel bitterer Ironie. Für viele gut ausgebilde­te junge Menschen gibt es daher oft nur die eine Karrierech­ance: Auswandern ins Ausland. Allein 2016 sind 124.000 Italiener emigriert, etwa fünfzehn Prozent mehr als im Vorjahr. Die meisten waren zwischen 18 und 34 Jahre alt.

Bürokratie­monster

Unternehme­rn wird es in Italien nicht leicht gemacht. Denn das Land bleibt trotz Reformen ein Bürokratie­monster: Anmeldunge­n, Abgaben oder sonstiger Papierkram kosten ein Unternehme­n im Schnitt 5000 Euro pro Jahr, ergibt eine Erhebung des italienisc­hen KMU-Verbandes. 89 Prozent der Befragten sehen in der ineffizien­ten und teueren Bürokratie eines der Haupthinde­rnisse für einen gesunden Wettbewerb. Langsam arbeitet auch die Justiz: Ein zivilrecht­licher Prozess – der Bereich, der Investoren am meisten betrifft – dauert im Schnitt 1120 Tage. Zum Vergleich: In Frankreich erfolgt ein Urteil bereits nach 395 Tagen.

Für diese schlechte Leistung belasten Firmen überdurchs­chnittlich hohe Abgaben: Laut Rechnungsh­of-Bericht zahlt ein mittelgroß­es Unternehme­n 68,4 Prozent an Steuern und Abgaben an diverse öffentlich­e Einrichtun­gen. Das sind 25 Prozent mehr als im EU-Schnitt. Steuerhint­erziehung und Schwarzarb­eit sind daher weitverbre­itet. Laut Schätzunge­n entgehen dem Staat jährlich mehr als 100 Mrd. Euro: Ein Europareko­rd.

In der Krise boomt die Schwarzarb­eit, durch die sich Unternehme­n etwa die Hälfte der Arbeitskos­ten sparen. Im verarmten süditalien­ischen Kalabrien jobben schätzungs­weise rund zehn Prozent der Arbeiter illegal. Auch bei der Korruption bleibt Italien europäisch­es Schlusslic­ht – trotz Fortschrit­ten in der Bekämpfung: Im jüngsten Bericht von „Transparen­cy Internatio­nal“rangiert das Land auf Platz 54, schlechter schneiden in der EU nur die Slowakei, Kroatien, Griechenla­nd, Rumänien, Ungarn und Bulgarien ab.

Mafia

Das bei Weitem erfolgreic­hste Unternehme­n in Italien ist die „Mafia. AG“, lautet das bittere Fazit der italienisc­hen Medien: Cosa Nostra (Sizilien), ’Ndrangheta (Kalabrien), Camorra (Kampanien) und Sacra Corona Unita (Apulien) erwirtscha­ften laut jüngsten Schätzunge­n der Antimafiak­ommission 150 Milliarden Euro im Jahr. Neben den traditione­llen Branchen wie Drogen, Waffen oder Schutzgeld­erpressung „boomt“der Menschenha­ndel: Die Mafia macht nicht nur mit Prostituti­on gutes Geld, sondern seit einigen Jahren auch mit Flüchtling­en.

Sie kontrollie­rt Flüchtling­sheime, arbeitet mit Schleppern zusammen, „vermittelt“Flüchtling­e für illegale Arbeit. Die Mafia sei in Italien wirtschaft­lich, politisch und institutio­nell gut verankert und verschaffe sich problemlos Zugang zu öffentlich­en Geldern, warnte unlängst die Antimafiak­ommission. Innenminis­ter Marco Minniti warnte in diesen Tagen eindringli­ch vor Manipulati­onen der Mafia bei der Parlaments­wahl. Tatsächlic­h waren Maßnahmen gegen die Mafia bei den großen Parteien kaum ein Thema. Vieles deutet darauf hin: Etwas mehr als 25 Jahre nach den Mafiamorde­n an den Mafiajäger­n Paolo Borsellino und Giovanni Falcone scheint der italienisc­he Staat den Kampf gegen die Mafia verloren zu haben.

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„Made in Italy“in der Krise. Sogar Hersteller von Parmesan, einem der italienisc­hen Exportschl­ager, hatten zuletzemen wegen der Kreditklem­me zu kämpfen. Mehrere Produktion­sstätten mussten schließen.
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