Die Dauerleiden des italienischen Patienten. Ein Überblick
Seit Jahren ist Italien Sorgenkind der EU, das Herkunftsland des einst boomenden „Made in Italy“befindet sich in der wirtschaftlichen und politischen Dauerkrise. Ein Überblick über die größten Probleme, an denen die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozon
Italien, der chronisch kranke Patient Europas: Dieses Bild kursiert seit Jahren in internationalen Medien. Und tatsächlich durchlebt die Heimat des Savoir-vivre und einst boomenden „Made in Italy“ein tristes Krisenjahrzehnt, geprägt von wirtschaftlicher Stagnation und Rezession, steigender Armut und dem Exodus seiner jungen, gebildeten Bürger. Zuletzt gab es zarte Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung: Umso größer ist die Angst, dass die Parlamentswahl am Sonntag dem dringend sanierungsbedürftigen Italien einen weiteren Rückschlag verpassen könnte. Hier ein Überblick über die schwerwiegendsten Probleme, an denen die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone leidet. Marode Wirtschaft Nervös blicken Brüssel und Investoren auf die Wahl am Sonntag. Unklare Mehrheiten oder gar der Sieg euroskeptischer Parteien könnten den Sparkurs des hoch verschuldeten EU-Sorgenkindes bremsen, die im EUStabilitätspakt vorgesehene Defizitgrenze von drei Prozent wäre dann kaum noch einhaltbar. Und tatsächlich hat keine einzige Partei eine Reform- oder Sparpolitik auf dem Programm. Im Gegenteil: Es werden Wahlgeschenke in Milliardenhöhe versprochen.
Das Horrorszenario: Die Unsicherheit führt zu steigenden Zinsen bei den Staatsanleihen, Italien kann weder Schulden zurückzahlen noch sich auf dem Markt neues Geld leihen und wird zahlungsunfähig. Die Folgen für den Euro wären katastrophal. Denn wegen Italiens Größe wäre ein Rettungspaket wie für Griechenland schwer vorstellbar.
Jetzt schon steht Italiens Wirtschaft auf wackeligen Beinen. Größte Probleme sind Schulden und niedriges Wachstum: Dank Einsparungen wurde die Neuverschuldung zwar auf 2,3 Prozent reduziert, die staatliche Gesamtverschuldung liegt aber weiter bei exorbitanten 133 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Nach einem Jahrzehnt der Stagnation und Rezession erholt sich Italiens Wirtschaft aber zu langsam, um Schulden zu finanzieren: Das für heuer erwartete Wachstum von 1,5 Prozent bleibt unter dem EUSchnitt. Die Arbeitslosenquote geht zurück, ist aber mit zehn Prozent weiter sehr hoch.
Dazu kommt der enorme, wenn auch zuletzt durch staatliche Hilfe etwas abgebaute Berg an faulen Krediten bei Banken. Zumindest bei den insolventen Monte Paschi di Siena, Veneto Banca und Banca Popolare di Vicenza ist die unmittelbare Gefahr zumindest für die nächsten Jahre gebannt. Die grundlegenden Probleme wurden aber nicht gelöst: Vetternwirtschaft, zu enge Verflechtungen zwischen den Finanzinstituten, der Politik, Wirtschaft und einzelnen Körperschaften sowie eine undurchsichtige Verwaltung bleiben bestehen. Hinzu kommen neue drohende Gefahren: Die Banken haben Staatspapiere im Wert von mehr als 300 Mrd. Euro in ihren Portfolios. Dies könnte sich als Risiko erweisen, sollten die Zinsen der Anleihen steigen.
Einwanderung
Die Einwanderung ist eines der Hauptthemen dieses Wahlkampfes und sorgt für erhebliche soziale Spannungen. Die oppositionellen Rechtsparteien (Lega Nord, Forza Italia und Fratelli d’Italia) sowie die „Grillini“sprechen von der „Invasion der Illegalen“und fordern schärfere Einschränkungen. Rassistische Gewaltakte, wie der Angriff mit Schusswaffen auf Migranten in der Kleinstadt Macerata, haben die Stimmung gefährlich vergiftet.
Die Migration hat das Land verändert: Vom Auswanderungsland im 20. Jahrhundert ist Italien nun zum Einwanderungsland geworden. Erstmals 1991 zogen mehr Menschen nach Italien als umgekehrt – damals waren es Albaner und Marokkaner. Inzwischen ist Italien zum Hauptankunftsland der Migranten aus dem südlichen Mittelmeer geworden: Allein in den vergangenen sechs Jahren kamen geschätzte 809.000 Menschen ins rund 60-Millionen-Einwohner-Land über die gefährliche Mittelmeerroute nach Italien, die allermeisten aus Südsahara-Afrika.
Italien ist mit der hohen Anzahl der Ankünfte überfordert und fühlt sich von der EU im Stich gelassen: Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat zwar ihre Hilfe bei Patrouillen im Mittelmeer verstärkt, doch ein Großteil der Einsätze sind Rettungsmissionen. Die geretteten Boat People werde allesamt nach Italien gebracht. Bei der vereinbarten Aufteilung von Flüchtlingen auf europäische Länder hinken die meisten EU-Mit-
glieder hinterher, viele weigern sich überhaupt, Migranten aufzunehmen. Doch auch interne, strukturelle Probleme sind Grund für die Migrationskrise: Die Rückführungen von Flüchtlingen verlaufen schleppend, die Infrastruktur bei der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen ist schlecht und fehlerhaft, die Bearbeitungen von Asylanträgen dauern trotz Reformen noch viel zu lang.
Die Regierung hat nun im Alleingang Schritte gesetzt, um den Flüchtlingsstrom einzudämmen: Rom schloss teure Deals mit libyschen Behörden und Milizen ab. Der Pakt funktioniert offenbar: Seit Anfang 2018 kamen 49,9 Prozent weniger Migranten über das Meer als im Vergleichszeitraum 2017, aus Libyen selbst kamen im selben Zeitraum 60 Prozent weniger Menschen.
Verlorene Jugend
Italien ist kein Land für junge Leute. Unter 35-Jährige sind in der rasant alternden Gesellschaft eine Minderheit: Auf 100 Jugendliche kommen in Italien heute 165,3 Italiener, die älter als 65 Jahre sind. Und die Kluft zwischen Jung und Alt wird sich in den nächsten Jahren noch weiter vergrößern: Allein innerhalb der vergangenen acht Jahre hat die Anzahl der Neugeborenen um 100.000 Babys abgenommen. Mit durchschnittlich 1,34 Kindern pro Frau hat Italien eine der niedrigsten Geburtenraten in der EU (der EU-Schnitt liegt bei 1,58 Kindern). Damit die Bevölkerung wächst, wären 2,1 Kind pro Frau notwendig. Hinzu kommt, dass Italien seinen jungen Menschen kaum Chancen bietet.
Im ärmlichen Süden hat jeder zweite 15bis 24-Jährige keinen Job, jeder dritte ist langzeitarbeitslos. Im reicheren und industrialisierten Norditalien ist jeder vierte Jugendliche arbeitslos. Noch 2008 war die Jugendarbeitslosigkeit in Italien halb so hoch. Und wer heute einen Job hat, der muss oft mit schlecht bezahlten Teilzeitverträgen überleben: Als „1000-Euro-Generation“bezeichnen sich heute die jungen Italiener mit viel bitterer Ironie. Für viele gut ausgebildete junge Menschen gibt es daher oft nur die eine Karrierechance: Auswandern ins Ausland. Allein 2016 sind 124.000 Italiener emigriert, etwa fünfzehn Prozent mehr als im Vorjahr. Die meisten waren zwischen 18 und 34 Jahre alt.
Bürokratiemonster
Unternehmern wird es in Italien nicht leicht gemacht. Denn das Land bleibt trotz Reformen ein Bürokratiemonster: Anmeldungen, Abgaben oder sonstiger Papierkram kosten ein Unternehmen im Schnitt 5000 Euro pro Jahr, ergibt eine Erhebung des italienischen KMU-Verbandes. 89 Prozent der Befragten sehen in der ineffizienten und teueren Bürokratie eines der Haupthindernisse für einen gesunden Wettbewerb. Langsam arbeitet auch die Justiz: Ein zivilrechtlicher Prozess – der Bereich, der Investoren am meisten betrifft – dauert im Schnitt 1120 Tage. Zum Vergleich: In Frankreich erfolgt ein Urteil bereits nach 395 Tagen.
Für diese schlechte Leistung belasten Firmen überdurchschnittlich hohe Abgaben: Laut Rechnungshof-Bericht zahlt ein mittelgroßes Unternehmen 68,4 Prozent an Steuern und Abgaben an diverse öffentliche Einrichtungen. Das sind 25 Prozent mehr als im EU-Schnitt. Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit sind daher weitverbreitet. Laut Schätzungen entgehen dem Staat jährlich mehr als 100 Mrd. Euro: Ein Europarekord.
In der Krise boomt die Schwarzarbeit, durch die sich Unternehmen etwa die Hälfte der Arbeitskosten sparen. Im verarmten süditalienischen Kalabrien jobben schätzungsweise rund zehn Prozent der Arbeiter illegal. Auch bei der Korruption bleibt Italien europäisches Schlusslicht – trotz Fortschritten in der Bekämpfung: Im jüngsten Bericht von „Transparency International“rangiert das Land auf Platz 54, schlechter schneiden in der EU nur die Slowakei, Kroatien, Griechenland, Rumänien, Ungarn und Bulgarien ab.
Mafia
Das bei Weitem erfolgreichste Unternehmen in Italien ist die „Mafia. AG“, lautet das bittere Fazit der italienischen Medien: Cosa Nostra (Sizilien), ’Ndrangheta (Kalabrien), Camorra (Kampanien) und Sacra Corona Unita (Apulien) erwirtschaften laut jüngsten Schätzungen der Antimafiakommission 150 Milliarden Euro im Jahr. Neben den traditionellen Branchen wie Drogen, Waffen oder Schutzgelderpressung „boomt“der Menschenhandel: Die Mafia macht nicht nur mit Prostitution gutes Geld, sondern seit einigen Jahren auch mit Flüchtlingen.
Sie kontrolliert Flüchtlingsheime, arbeitet mit Schleppern zusammen, „vermittelt“Flüchtlinge für illegale Arbeit. Die Mafia sei in Italien wirtschaftlich, politisch und institutionell gut verankert und verschaffe sich problemlos Zugang zu öffentlichen Geldern, warnte unlängst die Antimafiakommission. Innenminister Marco Minniti warnte in diesen Tagen eindringlich vor Manipulationen der Mafia bei der Parlamentswahl. Tatsächlich waren Maßnahmen gegen die Mafia bei den großen Parteien kaum ein Thema. Vieles deutet darauf hin: Etwas mehr als 25 Jahre nach den Mafiamorden an den Mafiajägern Paolo Borsellino und Giovanni Falcone scheint der italienische Staat den Kampf gegen die Mafia verloren zu haben.