Wo das Verborgene mehr als hundert Meter lang ist
Der Linienwall: eine unverhoffte Begegnung zwischen Schlachthausgasse und Neu Marx.
S oll schon vorkommen, dass man nicht immer ganz genau weiß, was man eigentlich vor sich hat, wenn man durch Wiens Straßen geht. Ein paar Monate ist es her, ich spazierte von der U3-Station Schlachthausgasse in Richtung Quartier Neu Marx, da türmte sich vor mir unvermittelt eine doch recht imposante Mauer auf, die ich vielleicht gar nicht als Mauer, sondern eher als quasi natürlich gewachsenen Geländesprung wahrgenommen hätte, wäre da nicht, auf einer Strecke von gut 100 Metern, unter der sonst alles überdeckenden, dicht bewachsenen Erdschicht blankes Geziegel zu sehen gewesen. Ziemlich auffällig, und doch nicht auffällig genug, dass ich allzu viele Gedanken darauf verwendet hätte, war doch im selben Augenblick meine Aufmerksamkeit vollständig davon in Anspruch genommen, die Hundezone, die am Fuß der Mauer eingerichtet ist, halbwegs – wie soll man sagen? – unbefleckt zu durchqueren.
Wie viel Wiener Geschichte ich damals begegnet war, ohne dass ich ihr gewärtig worden wäre, das erfuhr ich erst dieser Tage, und zwar schlicht in meinem Wohnzimmer, bei der Lektüre eines Buchs, das die Wien-Museum-Kuratorin Michaela Lindinger kürzlich im Jonglez-Verlag herausgebracht hat: Auf Seite 245 der 480 Seiten, die sie dem „Verborgenen Wien“widmet, weiß sie davon zu berichten, was es mit der Mauer auf sich hat. Diese nämlich sei einer der letzten Reste, die auf den Linienwall verweisen, zwecks Abwehr der Kuruzzen Anfang des 18. Jahrhunderts errichtet. Eine weitere Linienwallmemorabilie, gleichfalls ein Stück „Verborgenes Wien“: die Hundsturmer Kapelle, Ecke Schönbrunner Straße/St.-Johann-Gasse, die letzte Linienwallkapelle, „die noch an ihrem ursprünglichen Platz steht“.
Es ist ja auch sonst so: Verborgenes muss nicht im engeren Wortsinn verborgen sein, verborgen ist es auch dann, wenn wir es in seiner Bedeutung nicht erkennen.