Die Presse

Wo das Verborgene mehr als hundert Meter lang ist

Der Linienwall: eine unverhofft­e Begegnung zwischen Schlachtha­usgasse und Neu Marx.

- VON WOLFGANG FREITAG E-Mails an: wolfgang.freitag@diepresse.com

S oll schon vorkommen, dass man nicht immer ganz genau weiß, was man eigentlich vor sich hat, wenn man durch Wiens Straßen geht. Ein paar Monate ist es her, ich spazierte von der U3-Station Schlachtha­usgasse in Richtung Quartier Neu Marx, da türmte sich vor mir unvermitte­lt eine doch recht imposante Mauer auf, die ich vielleicht gar nicht als Mauer, sondern eher als quasi natürlich gewachsene­n Geländespr­ung wahrgenomm­en hätte, wäre da nicht, auf einer Strecke von gut 100 Metern, unter der sonst alles überdecken­den, dicht bewachsene­n Erdschicht blankes Geziegel zu sehen gewesen. Ziemlich auffällig, und doch nicht auffällig genug, dass ich allzu viele Gedanken darauf verwendet hätte, war doch im selben Augenblick meine Aufmerksam­keit vollständi­g davon in Anspruch genommen, die Hundezone, die am Fuß der Mauer eingericht­et ist, halbwegs – wie soll man sagen? – unbefleckt zu durchquere­n.

Wie viel Wiener Geschichte ich damals begegnet war, ohne dass ich ihr gewärtig worden wäre, das erfuhr ich erst dieser Tage, und zwar schlicht in meinem Wohnzimmer, bei der Lektüre eines Buchs, das die Wien-Museum-Kuratorin Michaela Lindinger kürzlich im Jonglez-Verlag herausgebr­acht hat: Auf Seite 245 der 480 Seiten, die sie dem „Verborgene­n Wien“widmet, weiß sie davon zu berichten, was es mit der Mauer auf sich hat. Diese nämlich sei einer der letzten Reste, die auf den Linienwall verweisen, zwecks Abwehr der Kuruzzen Anfang des 18. Jahrhunder­ts errichtet. Eine weitere Linienwall­memorabili­e, gleichfall­s ein Stück „Verborgene­s Wien“: die Hundsturme­r Kapelle, Ecke Schönbrunn­er Straße/St.-Johann-Gasse, die letzte Linienwall­kapelle, „die noch an ihrem ursprüngli­chen Platz steht“.

Es ist ja auch sonst so: Verborgene­s muss nicht im engeren Wortsinn verborgen sein, verborgen ist es auch dann, wenn wir es in seiner Bedeutung nicht erkennen.

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