Regierungen kippen Flüchtlingsquote
Migration. EU-Experten aus den Mitgliedstaaten feilen an einer Dublin-Reform. Indes will Brüssel die Visumvergabe für Drittstaaten an die Rücknahme in der EU abgelehnter Asylwerber knüpfen.
Die Stimmung war unterkühlt, als sich die EU-Innenminister am gestrigen Donnerstag in Brüssel versammelten. Offiziell stand das Thema Dublin-Reform zwar nicht auf der Agenda des Treffens, inoffiziell aber dominierte die Flüchtlingsdebatte einmal mehr die bilateralen Unterredungen der Ressortchefs. Schließlich hat Ratspräsident Donald Tusk das klare Ziel vorgegeben, bis zum Gipfel der Staats- und Regierungschefs im Juni eine Einigung über die gemeinsame europäische Asylpolitik zu finden. Allzu großer Optimismus, dass der Zeitplan eingehalten werden kann, ist aber nicht angebracht: Bekanntlich unterscheiden sich die Positionen der Mitgliedstaaten gerade in der Migrationspolitik dramatisch.
Die bulgarische EU-Präsidentschaft hat nun einen weiteren Versuch für eine gemeinsame Antwort in der Flüchtlingsfrage unternommen. Das berichtet der EUobserver. Demnach arbeitet eine Gruppe aus Experten der EU-28 seit Wochen intensiv an einer Kompromisslösung. Diese soll – wohl als Zugeständnis an die Visegrad-´ Länder, die gegen jede Verpflichtung in der Flüchtlingspolitik sind – keine Quoten beinhalten und die Kontrolle über die Aufteilung von Asylwerbern bei den Mitgliedstaaten belassen.
Die durchgesickerten Pläne konterkarieren die Vorstellungen von Kommission und Europaparlament, die sehr wohl ein sogenanntes Relocation-System vorsehen; also Asylsuchende nach bestimmten Kriterien auf die Länder der Union verteilen wollen. Zur Erinnerung: Die (noch) gültige DublinRegel sieht vor, dass meist jenes Mitgliedsland für ein Asylverfahren zuständig ist, in dem ein Flüchtling zuerst europäischen Boden betreten hat. Dieses System jedoch hat sich seit der großen Flüchtlingswelle in der zweiten Jahreshälfte 2015 als unpraktikabel erwiesen. Die Zeit für eine Einigung im Flüchtlingsstreit drängt also – auch angesichts der Tatsache, dass die bestehenden Grenzkontrollen im Schengen-Raum auf zunehmenden Widerstand einzelner EU-Mitglieder stoßen. Wenn die Union kein gut funktionierendes Asylsystem habe, würden bei Migrationskrisen alle Staaten „kontraproduktive Maßnahmen wie Grenzkontrollen“setzen, sagte etwa der niederländische Migrationsminister, Mark Harbers, im Vorfeld des gestrigen Treffens.
Auch in einer anderen Frage – nämlich jener, was mit den Menschen passieren soll, die in der Union gar kein Asyl erhalten – sollen schon bald Entscheidungen fallen. Nächsten Dienstag wird EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos seinen Vorschlag zur Reform der Ausstellung von Visa für den Schengen-Raum vorlegen. Wie „Die Presse“von zwei Quellen aus Ratskreisen erfuhr, wird sich in dieser Neufassung eine außenpolitisch heikle Maßnahme finden: Wenn Herkunftsländer illegaler Migranten diese nach negativ beendetem Asylverfahren in der EU nicht wieder aufnehmen, wird ihnen die Zahl der Schengen-Visa gekürzt.
„Es gibt eine Waffe, die sehr wirksam ist und die die Kommission nun im Recht verankern will: Wenn ihr eure Leute nicht aufnehmt, senken wir die Zahl der Visa für euch“, erklärte ein euro- päischer Diplomat. Der Umstand, dass einige Staaten bei der Abschiebung ihrer nicht asylberechtigten Bürger die Zusammenarbeit mit den europäischen Behörden verweigerten, sei „nicht akzeptabel“. Vor allem die westafrikanischen Länder Senegal, Mali und Elfenbeinküste blieben ihre Mithilfe bei der Ausstellung der für die Abschiebeflüge nötigen Passierscheine schuldig.
Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass der drohende Verlust begehrter EU-Visa für die Elite eines nicht sehr effizient und transparent regierten Staates plötzliche Motivationsschübe in der Zusammenarbeit mit den europäischen Behörden bewirken kann. Plakativ gesprochen geht es um die Drohung, dass die Gattin des jeweiligen Präsidenten künftig nicht mehr zum jährlichen Shoppingtrip an die Champs-E´lyse´es reisen kann. Bemerkenswert ist eine Anekdote aus der Regierungszeit von Guy Verhofstadt, des jetzigen Fraktionsführers der Liberalen im EU-Parlament, als belgischer Ministerpräsident: Als Russland sich weigerte, illegale russische Migranten aus Belgien zurückzunehmen, ließ die Brüsseler Regierung verkünden, das belgische Konsulat in Moskau wegen „Renovierungsarbeiten“auf unbestimmte Zeit schließen zu wollen, weshalb man dort keine Visa mehr werde beantragen können. „Das hat gewirkt“, so ein langjähriger Teilnehmer an Innenministerräten.
Hintergrund für den Vorstoß der Kommission ist die nicht zufriedenstellend funktionierende Abschiebepraxis in der Union. Statt mehr rechtskräftig abgelehnte Asylwerber in ihre Herkunftsländer zu schicken, gelingen den Unionsmitgliedern von Jahr zu Jahr weniger Rückführungen, hielt die EU-Grenzschutzagentur Frontex neulich in ihrer Risikoanalyse für das heurige Jahr fest. Besonders schlecht funktioniert das im Verhältnis zu Afrika: In die zentralund ostafrikanischen Staaten konnten 2017 nur ca. 15 Prozent der abgelehnten Asylantragsteller zurückgeschickt werden.