Die Presse

Erneuert sich unser Gehirn doch nie?

Die jüngste Analyse fand Neurogenes­e, Bildung neuer Hirnzellen, nur bei Kindern. Dann kommt nichts mehr.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

„Wenn die Entwicklun­g beendet ist, trocknen die Quellen der Jugend und Regenerati­on unwiederbr­inglich aus. Im erwachsene­n Gehirn sind die Nervenbahn­en starr und unveränder­lich. Alles muss sterben, nichts kann erneuert werden.“Das schrieb 1928 Santiago Ramon´ y Cajal, einer der Gründer der Hirnforsch­ung, er meinte damit, dass die Zellen unseres Gehirns – und die aller anderen Säuger – nie durch neue ersetzt werden, wenn es einmal fertig gebaut ist.

Das wurde so Allgemeing­ut, dass Joseph Altman, als er 1962 bei Ratten doch neue Hirnzellen fand, die Publikatio­n in Science so überschrie­b: „Are new neurons formed in the brains of adult mammals?“(135, S. 1127). Bald war es keine Frage mehr, und in den 1990ern fand sich auch im Hippocampu­s, einer für Lernen und Erinnern zuständige­n Hirnregion, Neurogenes­e, 2013 konnte die Größenordn­ung abgeschätz­t werden, mithilfe der Atombomben­tests der 1950er: Das dabei freigesetz­te Kohlenstof­fisotop kam über die Nahrung in den Körper, und alle früher und später entstanden­en Hirnzellen hatten es nicht. Daraus leitete Jonas Frisen (Stockholm) ab, dass pro Tag 700 neue Zellen kommen (Cell 153, S. 1219).

Das ist zwar verschwind­end wenig – der Hippocampu­s hat Zigmillion­en Zellen –, weckte aber große Hoffnungen, man könne das Gehirn von Leiden heilen bzw. etwa durch Sport fit halten. Aber nun hat Arturo Alvarez-Buylla (UC San Francisco) 59 Hirnproben von Menschen verschiede­nsten Alters analysiert und kräftige Neurogenes­e nur im ersten Lebensjahr gefunden. Dann wird sie schwach, und nach dem Alter von 13 Jahren zeigt sich gar nichts mehr: „Neurogenes­e im Hippocampu­s setzt sich in erwachsene­n Menschen nicht fort, oder sie ist extrem selten“(Nature, 7. 3.).

Das löste Kritik aus: Viele der Proben stammten von Toten, und die Marker, nach denen Alvarez-Buylla suchte, könnten von konservier­enden Chemikalie­n zerstört worden sein. Der Einwand übersieht nur, dass sich bei Kindern durchaus Neurogenes­e gefunden hat. Hat also Ramon´ y Cajal nach 90 Jahren doch recht? Es könnte sein, dass das erwachsene Menschenge­hirn so komplex verschalte­t ist, dass Neues nur verwirren würde.

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