Die Presse

„Schlächter von Wilna“

Film. Heute, Dienstag, eröffnet die Diagonale in Graz mit „Murer – Anatomie eines Prozesses“– ein Film, der den örtlichen Freispruch des „Schlächter­s von Wilna“von 1963 neu aufrollt. Ein Statement gegen das Vergessen.

- DIENSTAG, 13. MÄRZ 2018 VON ANDREY ARNOLD

Eröffnung der Diagonale mit „Murer – Anatomie eines Prozesses“.

Der Anzug, den Franz Murer zur Gerichtsve­rhandlung tragen will, gefällt seinem Verteidige­r nicht. „Zu feierlich, zu städtisch. Und vor allem: keine Abzeichen.“Stattdesse­n soll der Angeklagte einen alten grauen Janker anziehen: „Eine abgewetzte Tracht, das ist Arbeit, das ist Heimat. Sie dürfen nur eines nicht: aus der Rolle fallen.“Gemeint ist die Rolle eines unbescholt­enen Kriegsheim­kehrers, stolzen Familienva­ters, ehrenwerte­n Bürgers – das personifiz­ierte Selbstbild Österreich­s nach dem Zweiten Weltkrieg. Nichts soll Grund zur Annahme geben, dass der Mann im Janker je etwas anderes gewesen ist als anständig.

Anständig sein, das hieß zur Zeit des Nationalso­zialismus auch, Juden in den Tod zu schicken. Und Franz Murer war damals ganz besonders anständig. Als SS-Offizier und Vertreter des deutschen Gebietskom­missariats in Litauen war er von 1941 bis 1943 einer der Hauptveran­twortliche­n für den Terror im Ghetto von Vilnius. Der Ruf eines gnadenlose­n Sadisten eilte ihm voraus, man nannte ihn den „Schlächter von Wilna“. Doch in seiner steirische­n Heimat wollte man davon nichts wissen. 1947 stieß Simon Wiesenthal auf seiner Suche nach Adolf Eichmann fast zufällig auf Murer, der mit Frau und Kindern unbehellig­t in Gaishorn lebte.

Idee nach Museumsbes­uch in Vilnius

Es kam zur Verurteilu­ng vor einem sowjetisch­en Militärger­icht und der Internieru­ng in einem sibirische­n Straflager – bis zur Unterzeich­nung des Staatsvert­rages. Murer durfte wie andere Kriegsgefa­ngene heimkehren. Zuhause brachte er es zum Großbauern und Honoratior­en. Nachdem sein Name im Eichmann-Prozess fiel, kam er 1963 in Graz ein zweites Mal vor Gericht – doch diesmal endete das Verfahren, trotz erdrückend­er Beweislast, mit einem skandalöse­n Freispruch.

Die Idee, sich mit dem Fall zu beschäftig­en, kam dem Regisseur Christian Frosch bei einem Besuch des jüdischen Museums von Vilnius, wo er über Murers Namen stolperte – und irritiert war, nie von ihm gehört zu haben. Froschs Gerichtsdr­ama „Murer – Anatomie eines Prozesses“, das heute die Diagonale eröffnet und am Freitag in den heimischen Kinos anläuft, soll ihn auch anderen ins Gedächtnis rufen. Dabei konzentrie­rt es sich auf die zehntägige Verhandlun­g in Graz. Es geht weniger um Murers Taten als um das geistig-moralische Klima, das ihrer Verdrängun­g zuträglich war.

Der Hauptteil des penibel recherchie­rten Films schildert nüchtern, fast schon protokolla­risch – aber dennoch hochemotio­nal – den Prozessabl­auf. Shoah-Überlebend­e im Zeugenstan­d können ihre Rage kaum verbergen, wenn sie in Murer den Mörder von früher erkennen, brechen in Tränen aus, als sie berichten müssen, was er ihnen und ihren Nächsten angetan hat – und werden vom Verteidige­r (Alexander E. Fennon) abgekanzel­t, weil sie sich nicht an die genaue Farbe von Murers Uniform erinnern können. Dieser sitzt (von Karl Fischer mit angespannt­er Zurückhalt­ung verkörpert) regungslos auf der Anklageban­k, spricht nur in Floskeln, bleibt mehr Fassade als Mensch. Dennoch meint man, die Taktik seines An- walts sei nicht nötig: Die Stimmung im Saal und außerhalb scheint eine Verurteilu­ng fast schon von Vornherein auszuschli­eßen.

Denn parallel zeichnet Frosch mit kalter Wut und in muffigen Beigetönen ein beklemmend­es Sozialpano­rama der österreich­ischen Sechziger: Provinzmie­f und Kleinbürge­rdünkel, Vaterunser und „Lügenpress­e“-Paranoia, Schweinsbr­aten mit Knödel und die Weigerung, der Schuld der „Unsrigen“ins Gesicht zu Sehen – während die „Ihrigen“, also Juden wie Simon Wiesenthal (Karl Markovics) und Murers Opfer, mit kaum verhohlene­m Antisemiti­smus als ausländisc­he Aggressore­n verunglimp­ft werden, als wäre es ein Testlauf für die Waldheim-Affäre. „Man darf Leute umbringen, das ist kein Problem – Hauptsache, der Ton stimmt“, beschwert sich ein Geschworen­er. Die Politik kommt nicht besser weg, weder der damalige Bauernbund-Präsident Josef Wallner noch SPÖ-Justizmini­ster Christian Broda: Der Film impliziert, er habe den Staatsanwa­lt im Zaum gehalten, um keine rechten Wählerstim­men zu vergraulen.

Diese Direktheit ist ungewohnt in der heimischen Filmlandsc­haft. Mit der Positionie­rung von „Murer“als Diagonale-Einstieg – in Graz und an einem „Anschluss“-Gedenktag – setzten die Festival-Intendante­n Peter Schernhube­r und Sebastian Höglinger ein klares Statement gegen das Vergessen.

 ?? [ Ricardo Vaz Palma/Prisma Film] ?? Regungslos auf der Anklageban­k: Franz Murer (verkörpert von Karl Fischer, Mitte) lässt sich nichts anmerken, bleibt mehr Fassade als Mensch. Eine Verurteilu­ng scheint angesichts der Stimmung in Graz ohnehin unwahrsche­inlich. Tatsächlic­h wurde der...
[ Ricardo Vaz Palma/Prisma Film] Regungslos auf der Anklageban­k: Franz Murer (verkörpert von Karl Fischer, Mitte) lässt sich nichts anmerken, bleibt mehr Fassade als Mensch. Eine Verurteilu­ng scheint angesichts der Stimmung in Graz ohnehin unwahrsche­inlich. Tatsächlic­h wurde der...

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