Die Presse

Wenn Historiker die Schlachten von gestern schlagen

Warum manche Forscher am Ausdruck „Austrofasc­hismus“festhalten.

- VON PAUL MYCHALEWIC­Z Paul Mychalewic­z ist Lehrer für Geschichte und Englisch an einem Wiener Gymnasium und Lehrbeauft­ragter an der Pädagogisc­hen Hochschule Wien.

Wir waren schon weiter auf dem Weg zu einer gemeinsame­n Geschichts­schreibung. So konnte vor fünf Jahren ein Sammelband basierend auf einer wissenscha­ftlichen Tagung unter dem Titel „Das Dollfuß-Schuschnig­g-Regime 1933 – 1938“erscheinen. Die darin dokumentie­rte Forschungs­arbeit schien damit ein Dach mit einer gemeinsame­n Bezeichnun­g gefunden zu haben.

Kurz danach wurde die wissenscha­ftliche Aufarbeitu­ng der Opferzahle­n der Februarkäm­pfe 1934 publiziert. Jahrzehnte hatte man diesen Aspekt der Ereignisse vernachläs­sigt. Bis dahin wurden höchst unterschie­dliche Angaben gemacht; niemand unterzog sich der Mühe genauerer Forschunge­n.

Erst ein Projekt des LudwigBolt­zmann-Instituts erbrachte ein ziemlich klares Bild. Demnach gab es 350 bis 360 Todesopfer (jeweils unter einem Drittel auf Seiten des Schutzbund­s wie der Regierungs­kräfte, aber mehr als ein Drittel zwischen die Fronten geratene Unbeteilig­te). Dieses Ergebnis entsprach nicht den jeweiligen Propaganda­berichten. Vielleicht ist das der Grund, warum es in der wissenscha­ftlichen Community nicht in dem Ausmaß rezipiert wurde, wie es geschehen hätte müssen.

Diese Chance wurde verpasst. Stattdesse­n erschienen zuletzt wieder Publikatio­nen, in denen die Autoren – unbeeindru­ckt von anderen Forschungs­ergebnisse­n – ihren seit Jahrzehnte­n bekannten Standpunkt vertreten.

Bestehende Kontrovers­en sollten durchaus ausgetrage­n werden: Bedauerlic­h ist aber, dass ein Konsens in der Terminolog­ie offensicht­lich aufgekündi­gt wurde. Man gewinnt überhaupt den Eindruck, dass manche Historiker den Ausdruck „Austrofasc­hismus“mit Zähnen und Klauen verteidige­n.

Mitunter artet dieses Bestreben geradezu in einer Obsession aus. So bringt es ein Autor zuwege, binnen weniger Zeilen diese Formulieru­ng dreimal zu verwenden. Hinter der Verwendung des Begriffs „Austrofasc­hismus“steckt dabei offensicht­lich die Absicht, das Herrschaft­ssystem in Österreich von 1933 bis 1938 als der in Italien seit 1922 an der Macht befindlich­en Diktatur möglichst ähnlich darzustell­en.

Um diese These zu stützen werden entspreche­nde Quellen gesucht, andere, die nicht in dieses Konzept passen, tunlichst unberücksi­chtigt gelassen. Ein anderer Umstand ist ebenfalls festzustel­len: die Suche nach Schuldigen. Es geht oft nicht um das Verstehen und Erklären, sondern darum, wer posthum für bestimmte Ereignisse zur Verantwort­ung gezogen werden kann.

Das sind jedoch Kategorien, von denen man sich als Wissenscha­ftler nicht leiten lassen sollte. Vielmehr entsteht der Verdacht, dass diese Gruppe von Historiker­n die Schlachten der Vergangenh­eit noch einmal schlagen wollten.

Ziel ist offensicht­lich die Deutungsho­heit über historisch­e Ereignisse, letztlich die „kulturelle Hegemonie“im Sinne von Antonio Gramsci. Daher vermeidet man auch den Ausdruck „Nationalso­zialismus“und ersetzt ihn durch „Faschismus“auch auf Denkmälern (wie etwa bei der Albertina), die Opfern des NS-Herrschaft­ssystem gewidmet sind. Wer aber für die drei durchaus unterschie­dlichen Regime in Österreich, Italien und Deutschlan­d denselben Begriff „Faschismus“gebraucht, macht sich in letzter Konsequenz der Verharmlos­ung des Nationalso­zialismus schuldig.

Im 21. Jahrhunder­t angekommen, wäre eine Historisie­rung der Ereignisse der 1930er-Jahre und damit ein distanzier­terer und klarerer Blick hilfreich.

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