Wenn Historiker die Schlachten von gestern schlagen
Warum manche Forscher am Ausdruck „Austrofaschismus“festhalten.
Wir waren schon weiter auf dem Weg zu einer gemeinsamen Geschichtsschreibung. So konnte vor fünf Jahren ein Sammelband basierend auf einer wissenschaftlichen Tagung unter dem Titel „Das Dollfuß-Schuschnigg-Regime 1933 – 1938“erscheinen. Die darin dokumentierte Forschungsarbeit schien damit ein Dach mit einer gemeinsamen Bezeichnung gefunden zu haben.
Kurz danach wurde die wissenschaftliche Aufarbeitung der Opferzahlen der Februarkämpfe 1934 publiziert. Jahrzehnte hatte man diesen Aspekt der Ereignisse vernachlässigt. Bis dahin wurden höchst unterschiedliche Angaben gemacht; niemand unterzog sich der Mühe genauerer Forschungen.
Erst ein Projekt des LudwigBoltzmann-Instituts erbrachte ein ziemlich klares Bild. Demnach gab es 350 bis 360 Todesopfer (jeweils unter einem Drittel auf Seiten des Schutzbunds wie der Regierungskräfte, aber mehr als ein Drittel zwischen die Fronten geratene Unbeteiligte). Dieses Ergebnis entsprach nicht den jeweiligen Propagandaberichten. Vielleicht ist das der Grund, warum es in der wissenschaftlichen Community nicht in dem Ausmaß rezipiert wurde, wie es geschehen hätte müssen.
Diese Chance wurde verpasst. Stattdessen erschienen zuletzt wieder Publikationen, in denen die Autoren – unbeeindruckt von anderen Forschungsergebnissen – ihren seit Jahrzehnten bekannten Standpunkt vertreten.
Bestehende Kontroversen sollten durchaus ausgetragen werden: Bedauerlich ist aber, dass ein Konsens in der Terminologie offensichtlich aufgekündigt wurde. Man gewinnt überhaupt den Eindruck, dass manche Historiker den Ausdruck „Austrofaschismus“mit Zähnen und Klauen verteidigen.
Mitunter artet dieses Bestreben geradezu in einer Obsession aus. So bringt es ein Autor zuwege, binnen weniger Zeilen diese Formulierung dreimal zu verwenden. Hinter der Verwendung des Begriffs „Austrofaschismus“steckt dabei offensichtlich die Absicht, das Herrschaftssystem in Österreich von 1933 bis 1938 als der in Italien seit 1922 an der Macht befindlichen Diktatur möglichst ähnlich darzustellen.
Um diese These zu stützen werden entsprechende Quellen gesucht, andere, die nicht in dieses Konzept passen, tunlichst unberücksichtigt gelassen. Ein anderer Umstand ist ebenfalls festzustellen: die Suche nach Schuldigen. Es geht oft nicht um das Verstehen und Erklären, sondern darum, wer posthum für bestimmte Ereignisse zur Verantwortung gezogen werden kann.
Das sind jedoch Kategorien, von denen man sich als Wissenschaftler nicht leiten lassen sollte. Vielmehr entsteht der Verdacht, dass diese Gruppe von Historikern die Schlachten der Vergangenheit noch einmal schlagen wollten.
Ziel ist offensichtlich die Deutungshoheit über historische Ereignisse, letztlich die „kulturelle Hegemonie“im Sinne von Antonio Gramsci. Daher vermeidet man auch den Ausdruck „Nationalsozialismus“und ersetzt ihn durch „Faschismus“auch auf Denkmälern (wie etwa bei der Albertina), die Opfern des NS-Herrschaftssystem gewidmet sind. Wer aber für die drei durchaus unterschiedlichen Regime in Österreich, Italien und Deutschland denselben Begriff „Faschismus“gebraucht, macht sich in letzter Konsequenz der Verharmlosung des Nationalsozialismus schuldig.
Im 21. Jahrhundert angekommen, wäre eine Historisierung der Ereignisse der 1930er-Jahre und damit ein distanzierterer und klarerer Blick hilfreich.