Die Presse

Europas türkisches Dilemma

Gipfel von Varna. Die politische und weltanscha­uliche Kluft zwischen Brüssel und Ankara ist enorm. Der Migrations­druck aus dem Süden zwingt die Europäer, nolens volens mit Erdo˘gan im Gespräch zu bleiben.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. „Geografie ist Schicksal“, pflegt der für Erweiterun­gsfragen zuständige EUKommissa­r, Johannes Hahn, seine Ansprachen zum Thema gern einzuleite­n. Gegenüber keinem anderen Nachbarsta­at der Union trifft diese Feststellu­ng den Kern des Problems genauer als im Fall der Türkei.

Mag deren Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ sein Land auch Schritt für Schritt in eine orientalis­che Autokratie umrüsten, wo Opposition lebensgefä­hrlich, das freie Wort prekär und die Haltung gegenüber dem Westen passiv-aggressiv ist: Ohne die türkische Versiegelu­ng der Südgrenze zu Syrien und das mit Milliarden­beträgen aus Brüssel zusammenge­kleisterte Abkommen über die Rücknahme illegaler Migranten von den griechisch­en Inseln ist die nächste Migrations­krise nur einem Sommer weit entfernt. Das würde die zarte Aufbruchst­immung in Europa zunichtema­chen, welche Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker in das Wortbild vom Dach zu fassen pflegt, das man reparieren möge, solang die Sonne scheint.

EU abhängig von Erdogans˘ Wohlwollen

Die EU ist somit fürs Erste auf Erdogans˘ Wohlwollen angewiesen. Das Gipfeltref­fen von Varna, welches am Montagaben­d Juncker, den Europäisch­en Ratspräsid­enten, Donald Tusk, und Bulgariens Ratsvorsit­zenden, Bojko Borissow, zu Unterredun­gen mit Erdogan˘ zusammenfü­hrte, war ein weiteres Zeugnis dafür, wie schlecht das europäisch­türkische Verhältnis ist. Vier inhaltlich­e Brennpunkt­e veranschau­lichen dies.

1 Ein Beitrittsp­rozess, der nie wieder aus der Sackgasse kommen wird.

Selbstbewu­sst verkündete Erdogan˘ am Montag, er werde die Europäer dazu auffordern, alle Hinderniss­e beiseitezu­räumen, welche den Verhandlun­gen über den Beitritt der Türkei zur Union im Wege stehen. Doch von jenen rechtsstaa­tlichen Grundsätze­n, zu deren Einhaltung sich die Türkei vor 14 Jahren verpflicht­et hat, um mit dem Kandidaten­status belohnt zu werden, ist im Erdoganism­us˘ nichts mehr zu sehen. Nach Ostern wird die Kommission ihren Fortschrit­tsbericht der Verhandlun­gen präsentier­en. In Wirklichke­it ist der Beitrittsp­rozess beendet; die „Vorbeitrit­tshilfen“für Ankara wurden bereits großteils eingefrore­n oder so umprogramm­iert, dass sie möglichst die Zivilgesel­lschaft erreichen und nicht die Regierung alimentier­en. Das Ende der Beitrittsi­llusion seitens der Europäer offen auszusprec­hen ist nur eine Frage der nächsten Provokatio­nen Erdogans.˘

2 Von der Doktrin „Keine Probleme mit den Nachbarn“ist keine Rede mehr.

Diese Provokatio­nen werden zusehends dreister. Zypern wird von der türkischen Marine mit Gewalt daran gehindert, in seiner ihm nach Völkerrech­t zustehende­n Hoheitszon­e nach Bodenschät­zen zu suchen. Währenddes­sen befinden sich zwei griechisch­e Soldaten in türkischer Haft. Und dann wäre da noch das Katz-und-Maus-Spiel, welches Erdogan˘ rund um die Freilassun­g von Journalist­en mit europäisch­en Pässen macht. Von der im Mai 2009 offiziell verkündete­n türkischen Doktrin „Keine Probleme mit den Nachbarn“ist keine Rede mehr.

3 Die türkische Geheimpoli­zei macht in Westeuropa Jagd auf Exilkurden.

Die französisc­he Zeitung „Le Monde“berichtete vorletzte Woche, worüber man sich in Staatsschu­tzkreisen seit Längerem große Sorgen macht: Auftragsmö­rder im Dienste der türkischen Geheimpoli­zei machen in westeuropä­ischen Städten Jagd auf kurdi- sche Exilpoliti­ker. Die zuständige­n Behörden Deutschlan­ds, Frankreich­s und Belgiens haben deshalb ihre Zusammenar­beit in der Aufdeckung und Bekämpfung dieser klandestin­en Netzwerke verstärkt. Offen gegenüber Erdogan˘ anzusprech­en wagt das derzeit aber kein europäisch­er Politiker.

4 Erdogan˘ nutzt das Migrations­thema offen als Erpressung­smittel gegen die Europäer.

Denn der türkische Präsident hält ein Trumpfass in Händen: mehr als drei Millionen syrische Flüchtling­e, die in der Türkei gestrandet sind. Drei Milliarden Euro hat die EU der Türkei im März 2016 für deren Betreuung zugesagt. Das ist Erdogan˘ aber nicht genug: „Sie haben gesagt, sie würden uns drei Milliarden Euro plus noch einmal drei Milliarden Euro geben, aber bisher sind nur 850 Millionen Euro in unserem Safe eingelangt“, sagte er vor einer Woche. „Gebt uns das Geld. Diese Nation hat einen Stolz, und ihr könnt mit unserem Stolz nicht spielen.“

 ?? [ Reuters ] ?? Getrennte Wege: Der türkische Staatschef, Recep Tayyip Erdogan,˘ und EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk können sich auf immer weniger gemeinsame Nenner einigen.
[ Reuters ] Getrennte Wege: Der türkische Staatschef, Recep Tayyip Erdogan,˘ und EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk können sich auf immer weniger gemeinsame Nenner einigen.

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