Europas türkisches Dilemma
Gipfel von Varna. Die politische und weltanschauliche Kluft zwischen Brüssel und Ankara ist enorm. Der Migrationsdruck aus dem Süden zwingt die Europäer, nolens volens mit Erdo˘gan im Gespräch zu bleiben.
Brüssel. „Geografie ist Schicksal“, pflegt der für Erweiterungsfragen zuständige EUKommissar, Johannes Hahn, seine Ansprachen zum Thema gern einzuleiten. Gegenüber keinem anderen Nachbarstaat der Union trifft diese Feststellung den Kern des Problems genauer als im Fall der Türkei.
Mag deren Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ sein Land auch Schritt für Schritt in eine orientalische Autokratie umrüsten, wo Opposition lebensgefährlich, das freie Wort prekär und die Haltung gegenüber dem Westen passiv-aggressiv ist: Ohne die türkische Versiegelung der Südgrenze zu Syrien und das mit Milliardenbeträgen aus Brüssel zusammengekleisterte Abkommen über die Rücknahme illegaler Migranten von den griechischen Inseln ist die nächste Migrationskrise nur einem Sommer weit entfernt. Das würde die zarte Aufbruchstimmung in Europa zunichtemachen, welche Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in das Wortbild vom Dach zu fassen pflegt, das man reparieren möge, solang die Sonne scheint.
EU abhängig von Erdogans˘ Wohlwollen
Die EU ist somit fürs Erste auf Erdogans˘ Wohlwollen angewiesen. Das Gipfeltreffen von Varna, welches am Montagabend Juncker, den Europäischen Ratspräsidenten, Donald Tusk, und Bulgariens Ratsvorsitzenden, Bojko Borissow, zu Unterredungen mit Erdogan˘ zusammenführte, war ein weiteres Zeugnis dafür, wie schlecht das europäischtürkische Verhältnis ist. Vier inhaltliche Brennpunkte veranschaulichen dies.
1 Ein Beitrittsprozess, der nie wieder aus der Sackgasse kommen wird.
Selbstbewusst verkündete Erdogan˘ am Montag, er werde die Europäer dazu auffordern, alle Hindernisse beiseitezuräumen, welche den Verhandlungen über den Beitritt der Türkei zur Union im Wege stehen. Doch von jenen rechtsstaatlichen Grundsätzen, zu deren Einhaltung sich die Türkei vor 14 Jahren verpflichtet hat, um mit dem Kandidatenstatus belohnt zu werden, ist im Erdoganismus˘ nichts mehr zu sehen. Nach Ostern wird die Kommission ihren Fortschrittsbericht der Verhandlungen präsentieren. In Wirklichkeit ist der Beitrittsprozess beendet; die „Vorbeitrittshilfen“für Ankara wurden bereits großteils eingefroren oder so umprogrammiert, dass sie möglichst die Zivilgesellschaft erreichen und nicht die Regierung alimentieren. Das Ende der Beitrittsillusion seitens der Europäer offen auszusprechen ist nur eine Frage der nächsten Provokationen Erdogans.˘
2 Von der Doktrin „Keine Probleme mit den Nachbarn“ist keine Rede mehr.
Diese Provokationen werden zusehends dreister. Zypern wird von der türkischen Marine mit Gewalt daran gehindert, in seiner ihm nach Völkerrecht zustehenden Hoheitszone nach Bodenschätzen zu suchen. Währenddessen befinden sich zwei griechische Soldaten in türkischer Haft. Und dann wäre da noch das Katz-und-Maus-Spiel, welches Erdogan˘ rund um die Freilassung von Journalisten mit europäischen Pässen macht. Von der im Mai 2009 offiziell verkündeten türkischen Doktrin „Keine Probleme mit den Nachbarn“ist keine Rede mehr.
3 Die türkische Geheimpolizei macht in Westeuropa Jagd auf Exilkurden.
Die französische Zeitung „Le Monde“berichtete vorletzte Woche, worüber man sich in Staatsschutzkreisen seit Längerem große Sorgen macht: Auftragsmörder im Dienste der türkischen Geheimpolizei machen in westeuropäischen Städten Jagd auf kurdi- sche Exilpolitiker. Die zuständigen Behörden Deutschlands, Frankreichs und Belgiens haben deshalb ihre Zusammenarbeit in der Aufdeckung und Bekämpfung dieser klandestinen Netzwerke verstärkt. Offen gegenüber Erdogan˘ anzusprechen wagt das derzeit aber kein europäischer Politiker.
4 Erdogan˘ nutzt das Migrationsthema offen als Erpressungsmittel gegen die Europäer.
Denn der türkische Präsident hält ein Trumpfass in Händen: mehr als drei Millionen syrische Flüchtlinge, die in der Türkei gestrandet sind. Drei Milliarden Euro hat die EU der Türkei im März 2016 für deren Betreuung zugesagt. Das ist Erdogan˘ aber nicht genug: „Sie haben gesagt, sie würden uns drei Milliarden Euro plus noch einmal drei Milliarden Euro geben, aber bisher sind nur 850 Millionen Euro in unserem Safe eingelangt“, sagte er vor einer Woche. „Gebt uns das Geld. Diese Nation hat einen Stolz, und ihr könnt mit unserem Stolz nicht spielen.“