Die Presse

Das Hirn ist kein Computer, es braucht auch Fresszelle­n!

Hirnforsch­ung. Gliazellen im Gehirn sind mehr als Stütz- und Bindemater­ial: Manche von ihnen, die Mikroglia, eigentlich Fresszelle­n, arrangiere­n die Synapsen neu, indem sie an ihnen knabbern. Forscher am EMBL in Heidelberg konnten das jetzt sogar filmisch

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Über künstliche Intelligen­z wird derzeit wieder einmal viel geredet. Und man wundert sich genauso darüber, dass der – nicht einmal als Metapher akzeptable – Vergleich des Gehirns mit einem Computer noch immer grassiert, wie darüber, dass manche Essayisten offenbar glauben, dass eine direkte physische Verbindung von Chips zu Neuronen in naher Zukunft machbar sein wird.

Wie sehr das Gehirn ein typisch biologisch­es, von einem digitalen Computer grundlegen­d verschiede­nes System ist, illustrier­t eine in Nature Communicat­ions (26. 3.) erschienen­e Arbeit von Hirnforsch­ern am European Molecular Biology Laboratori­um (EMBL) in Heidelberg. Sie haben erstmals – durch eine Kombinatio­n von Elektronen­und Lichtmikro­skopie – filmisch festgehalt­en, wie Mikrogliaz­ellen helfen, die Synapsen, die Verbindung­en zwischen den Nervenzell­en, zu formieren und zu arrangiere­n.

Mikroglia sind ein spezieller Typ von Gliazellen, zu diesen rechnet man alle Zellen im Nervengewe­be, die nicht eigentlich­e Nervenzell­en (Neuronen) sind. Von ihnen gibt es immerhin neunmal so viele wie von den Neuronen. Einst schrieb man ihnen nur eine Stütz- und Bindefunkt­ion zu – ihr Name kommt vom griechisch­en Wort für Leim –, doch die Hirnforsch­er kommen immer mehr darauf, dass sie auch funktionel­le Rollen spielen, so isolieren sie die Neuronen elektrisch, sie ernähren sie und entsorgen die chemischen Botenstoff­e (Neurotrans­mitter), mit denen sie kommunizie­ren.

Andere Aufgaben haben die Mikroglia, die an die 20 Prozent der Gliazellen stellen. Sie gehören zum Immunsyste­m, sind mit den Makrophage­n verwandt, den Fresszelle­n, die eingedrung­ene Mikroorgan­ismen vertilgen. Auch die Mikroglia erkennen und beseitigen potenziell pathogene Substanzen. Schon länger vermuten Hirnforsch­er, dass sie auch Synapsen fressen, selektiv natür- lich, und so zur Entwicklun­g des Hirns beitragen. Die Bilder, die die EMBL-Forscher vom Gewebe aus dem Hippocampu­s (ein fürs Gedächtnis wichtiges Hirnareal) von Mäusen machen konnten, zeigen ein zarteres, subtileres Szenario: „Die Mikroglia fres- sen an den Synapsen, aber sie fressen sie nicht auf, sie eliminiere­n sie nicht“, sagt Cornelius Gross vom EMBL. In diesem Sinn sprechen die Forscher von partieller Phagozytos­e oder von Trogocytos­e, vom griechisch­en Wort für Knabbern: Die Mikroglia knabbern sich die Synapsen sozusagen zurecht, und zwar jeweils nur auf der präsynapti­schen Seite – an dem Neuron, das Neurotrans­mitter aussendet – nicht auf der postsynapt­ischen, wo die Neurotrans­mitter gebunden werden. Das Neutron an dieser Seite der Synapse reagiert dafür auf die Mikroglia mit der Bildung von Filopodia, von „kleinen explorativ­en Auswüchsen“, wie es Cornelius Gross ausdrückt: „Das ist den Laien wahrschein­lich nicht bewusst: Synapsen schauen sich dauernd nach etwas Neuem um. Das macht das Hirn so flexibel.“So sind Mikroglia wesentlich an der strukturel­len Plastizitä­t des Gehirns beteiligt – und damit an dem, was dieses besser kann als jeder Computer: nämlich Neues lernen.

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