„Wir Jesiden stehen genau in der Mitte“
Irak. Jesidenvertreter Brin Tahsin fordert von USA und EU, eine politische Lösung für das Siedlungsgebiet der verfolgten Minderheit in Sinjar zu vermitteln. Sinjar ist zwischen Bagdad und Erbil umstritten. Und die Türkei droht mit Einmarsch.
Die Jihadisten des sogenannten Islamischen Staates (IS) halten sich nur noch in einigen wenigen Gebieten oder sind in den Untergrund abgetaucht. Ihr „Kalifat“wurde zerschlagen, ihre Herrschaft über große Teile des Irak ist damit vorüber. Doch die Opfer des IS leiden nach wie vor an den Verbrechen, die an ihnen verübt wurden. Mit Schrecken erinnert sich der hochrangige Jesidenvertreter Brin Said Tahsin Beg an den Vernichtungsfeldzug der Extremisten gegen die Mitglieder seiner Glaubensgemeinschaft. „Beim Genozid im August 2014 wurden 5000 Menschen getötet und 7000 verschleppt. Bisher haben wir 40 Massengräber gefunden“, berichtet er im Gespräch mit der „Presse“. Damals sind IS-Kämpfer ins SinjarGebiet vorgerückt, das die Kurden Shingal nennen. Sie überfielen jesidische Dörfer, töteten die Männer und versklavten Frauen und Kinder. Zigtausende Jesiden flohen in die Berge, wo sie tagelang bei brütender Sommerhitze auf Rettung warteten.
Der IS wurde mittlerweile aus Sinjar vertrieben. Doch wirklich Ruhe ist im Siedlungsgebiet der Jesiden nicht eingekehrt. Nun wächst die Sorge vor einem neuen bewaffneten Konflikt. Denn der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ hat mit einer Militäraktion in Sinjar gedroht: Er werde türkische Soldaten in das Gebiet schicken, um von dort die Kämpfer der kurdischen Untergrundorganisation PKK zu vertreiben.
„Bis jetzt haben wir noch keine Informationen darüber, dass die Türkei tatsächlich einmarschiert ist“, sagt Brin Tahsin. Sollte Ankara aber tatsächlich eine Militäraktion starten, würden die Probleme in der Region nur weiter wachsen. Der Jesidenvertreter berich- tet zudem, dass PKK-Einheiten bereits Sinjar verlassen haben. „Bis zu 200 Kämpfer sind abgezogen, in Absprache mit Bagdad.“
Brin Tahsin ist der Sohn von Prinz Tahsin Said Beg, dem weltlichen Oberhaupt der Jesiden, und vertritt als Repräsentierender Prinz seinen Vater immer wieder bei öffentlichen Terminen. So war Brin Tahsin kürzlich in Wien, wo er am „Gipfel der Religionen“teilnahm. Die große Konferenz wurde vom König-Abdullah-Dialogzentrum (Kaiciid) veranstaltet.
Die Präsenz der PKK in Sinjar war ein Resultat des Kampfes gegen den IS. Als die Jesiden von den Jihadisten angegriffen wurden, standen sie zunächst allein da. Die Ers- ten, die der bedrängten Minderheit zu Hilfe eilten, waren Kämpfer der PKK und die mit ihr verbündeten Volksverteidigungseinheiten (YPG) aus Syrien.
Schließlich griffen auch viele Jesiden zu den Waffen, um sich gegen den IS zur Wehr zu setzen. Dabei waren sie aber auf Hilfe anderer, stärkerer Player angewiesen: So gibt es in Sinjar mehrere Tausend Kämpfer, die mit den YPG und der PKK verbündet sind. Mehrere Tausend Bewaffnete sind unter dem Dachverband der sogenannten irakischen Volksmobilisierungskräfte organisiert und werden von der Regierung in Bagdad und vom Iran unterstützt. Dazu kommen 7000 Kämpfer, die zu den Peschmerga der Kurdenregion gehören und Geld aus Erbil, der Hauptstadt der Kurdenregion, erhalten.
„Wir Jesiden stehen genau in der Mitte“, klagt Brin Tahsin. „Wir sagen zu unseren Leuten, dass sie nicht gegeneinander kämpfen sollen. Denn all diese Parteien, die sich bei uns engagieren, haben ihre eigene Agenda“, sagt der Jesidenvertreter. „Die Jesiden wollen nur in Frieden leben. Sie wollen nicht Teil eines geopolitischen Ringens sein.“Brin Tahsin verlangt, dass rasch eine politische Lösung für Sinjar gefunden wird. Sowohl die irakische Zentralregierung in Bagdad als auch die kurdische Regionalregierung in Erbil erheben Anspruch auf die Gegend. „Wir wollen, dass die USA und Europa die irakische Regierung und die Regie- rung der Kurdenregion dazu bringen, sich zusammenzusetzen, um eine Lösung für die Region zu finden“, fordert Brin Tahsin.
Offiziell gehört Sinjar zu den sogenannten umstrittenen Gebieten des Irak. Für diese war eigentlich ein Verfahren vorgesehen, in dem festgestellt wird, ob auch sie der autonomen Kurdenregion angeschlossen werden – zumindest laut der irakischen Verfassung, die nach dem Sturz des Diktators Saddam Hussein 2003 verabschiedet wurde. Doch das ist nie passiert.
Im Kampf gegen den IS rückten schließlich Peschmerga der Kurdenregion in die umstrittenen Gebiete ein. Wegen des Konflikts mit Bagdad nach dem Unabhängigkeitsreferendum der Kurdenregion im September mussten sich die Peschmerga von dort aber wieder zurückziehen.
Viele Jesidendörfer in Sinjar sind nach wie vor unbewohnt. „40.000 bis 50.000 Jesiden sind dorthin zurückgekehrt. 10.000 davon sind Kämpfer. Mehr als 300.000 leben aber noch immer in Flüchtlingslagern“, erzählt Brin Tahsin. „Wir brauchen weiterhin internationale, humanitäre Unterstützung für die Menschen in den Flüchtlingscamps.“
Und er verlangt auch Hilfe bei der Suche nach den vielen Opfern des IS, die noch immer vermisst werden. „Wir wissen nach wie vor nicht, wo 3000 gekidnappte Frauen sind“, sagt Brin Tahsin. Einen furchtbaren Verdacht hat er aber: „Einige dürften in andere arabische Länder weiterverschleppt worden sein.“Besonderes Kopfzerbrechen bereitet ihm das Schicksal jesidischer Buben, die vom IS entführt und mittlerweile befreit worden sind. „An ihnen wurde eine Gehirnwäsche vollzogen. Der IS hat ihnen gesagt, dass ihre eigenen Eltern und Verwandten Ungläubige sind, die vernichtet werden sollen. Wir müssen hart mit ihnen arbeiten, um diese Gedanken wieder aus ihnen herauszubekommen.“