Vielen Türken droht Passverlust
Illegale Doppelstaatsbürger. Die ersten Fälle sind rechtskräftig. Allein in Wien sind 1500 Verfahren im Gange, die MA 35 wurde um 26 Mitarbeiter aufgestockt. Betroffene setzen sich mit Anwälten zur Wehr.
Wien. Rund 1500 österreichische Staatsbürger türkischer Abstammung bekamen in den vergangenen Monaten einen Brief von der MA 35 (Einwanderung und Staatsbürgerschaft). In diesen „Feststellungsverfahren“werden die Empfänger aufgefordert, einen „vollständigen Auszug aus dem türkischen Personenstandsregister“vorzulegen, dem „eindeutig und zweifelsfrei zu entnehmen ist, ob und wann und auf welcher Rechtsgrundlage“sie die türkische Staatsbürgerschaft erworben haben.
Der Behörde sei nämlich bekannt geworden, dass sie „trotz Erwerbs der österreichischen Staatsbürgerschaft und nach Zurücklegung der türkischen Staatsangehörigkeit nun wieder im Besitz der türkischen Staatsangehörigkeit sein sollen“. Gemeint sind also die möglichen illegalen Doppelstaatsbürger, deren Namen auf einer Liste (einem angeblichen Wählerverzeichnis) aufgetaucht sind, die nun von der MA 35 überprüft wird. Den Personen auf der Liste droht der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft, bei einigen ist das schon geschehen.
Was genau steht auf der Liste mit den Namen?
Der MA 35 wurde Mitte 2017 von der FPÖ eine Liste (Quelle und Erstellungsdatum unbekannt) mit 95.000 türkischen Staatsbürgern übermittelt, die in Österreich wohnen, 44.000 davon in Wien. Wie sich herausgestellt hat, sind viele von ihnen keine österreichischen Staatsbürger, sondern leben mit einem Aufenthaltstitel hier. Sie wurden aussortiert. Übrig geblieben sind rund 18.500 Personen, die die österreichische Staatsangehörigkeit besitzen und bei denen der Verdacht besteht, dass sie zusätzlich auch türkische Staatsbürger sind.
Auf der Liste stehen dem Leiter der MA 35, Werner Sedlak, zufolge nicht nur Namen, sondern auch weitere Informationen wie etwa Geburtsdatum und Geburtsort der Personen. Die MA 35 überprüft nun, ob es sich bei den Betroffenen um Scheinstaatsbürger handelt. Denn der Begriff „illegale Doppelstaatsbürger“ist eigentlich irreführend, da es so etwas nicht gibt. In dem Moment, in dem ein Österreicher unrechtmäßig eine andere Staatsbürgerschaft annimmt, erlischt seine österreichische, er wird also zum Scheinstaatsbürger.
Für die Überprüfung der Liste wurde das Personal der MA 35 um 26 Mitarbeiter aufgestockt. Deren Verträge sind vorerst auf ein Jahr befristet, es ist aber sehr wahrscheinlich, dass sie verlängert werden, weil die Liste innerhalb eines Jahres nicht abgearbeitet werden kann. In Wien sind derzeit 12.000 Einträge in Bearbeitung – mit laut MA 35 „unterschiedlichem Verfahrensstand“.
Wie kamen die Betroffenen überhaupt zu ihrer Doppelstaatsbürgerschaft?
Doppelstaatsbürgerschaften sind in Österreich nicht erlaubt und werden nur in seltenen Fällen bewilligt. Wer als Türke die österreichische Staatsbürgerschaft erwirbt, muss also die türkische zurücklegen. Nach der Verleihung hat er aber (nach türkischem Recht, nicht nach österreichischem) die Möglichkeit, sich die türkische zurückzuerwerben. Davon machten in der Vergangenheit viele Gebrauch, um in der Türkei bei Behördengängen, Wohnungs- und Grundstückskäufen sowie Testamentseröffnungen keine Nachteile zu haben. Die Türkei erlaubt dieses Vorgehen, da dort Doppelstaatsbürgerschaften grundsätzlich möglich sind. Und weil die türkischen Behörden in dieser Causa mit den österreichischen nicht kooperieren, konnte Österreich jahrzehntelang kaum etwas gegen diese Vorgänge tun. Bis die Liste mit den Namen auftauchte, der die Behörden nun nachgehen müssen.
Verlieren jetzt Tausende Türken die österreichische Staatsbürgerschaft?
Das ist die große, nicht leicht zu beantwortende Frage, da die österreichischen Gerichte in vielen Punkten Neuland betreten. Möglich wäre es jedenfalls. Was auch der Grund dafür ist, warum Tausende Türken in Panik sind, obwohl sie wissen, dass die türkischen Behörden mit den österreichischen grundsätzlich nicht zusammenarbeiten und auf Anfragen nicht reagieren. Denn: In vielen Fällen müssen sie das gar nicht, die österreichischen Behörden – in Wien eben die MA 35 – können auch ohne Hilfe der türkischen Ämter recherchieren und Informationen zusammentragen, um, wie es korrekt heißt, den Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft festzustellen.
In vier Fällen in Wien ist das schon geschehen, österreichweit in mehr als 30 Fällen, die meisten sind rechtskräftig. Das klingt nicht nach viel, allerdings haben die Behörden ihre Arbeit erst aufgenommen, Hunderte weitere dürften in den kommenden Monaten folgen. Wie die Recherche der Behörden aussieht? In vielen Fällen, etwa bei Eheschließungen, Familienzusammenführungen, Visumsanträgen und Passverlängerungen werden Türken aufgefordert, einen Auszug aus dem Personenstandsregister vorzulegen. Wenn sie dieser Aufforderung in der Vergangenheit nachgekommen sind (und viele sind das), hätten die österreichischen Behörden immer noch Zugang zu diesem Registerauszug, aus dem möglicherweise eine Scheinstaatsbürgerschaft hervorgeht. Die Betroffenen hätten sich also unbewusst selbst belastet. Was nichts Ungewöhnliches ist, da sich viele mit den Gesetzen nicht auskennen.
Gibt es in Österreich bereits ausjudizierte Fälle?
Nein. Es gibt bisher lediglich behördliche Entscheidungen. Dann wären noch der Gang zum Landesverwaltungsgericht und eine Revision beim Verwaltungsgerichtshof möglich. Nach den bisherigen Erfahrungen ist davon auszugehen, dass die von den Behörden negativ beschiedenen Entscheidungen auch vor Gericht halten werden – sofern die Basis dieser Entscheidungen der Einblick in das Personenstandsregister ist. Das sagt auch der Wiener Rechtsanwalt Kazim Yilmaz, der unter anderem auf Staatsbürgerschaftsrecht spezialisiert ist und zahlreiche Betroffene vertritt. Yilmaz: „Wenn die Behörden ihre Entscheidungen aufgrund des türkischen Personenstandsregisters, in das sie Einblick hatten, getroffen haben, wird man diese Bescheide in den seltensten Fällen mit Erfolg bekämpfen können.“