May schlüpft ins Kostüm der „Eisernen Lady“
Großbritannien. In der Nervengift-Affäre und in der Russland-Politik hat die durch den Brexit und Parteiintrigen angeschlagene Premierministerin Theresa May an Statur gewonnen. Treibende Kraft ist Außenminister Boris Johnson.
Der Schlagabtausch zwischen Premier und Oppositionsführer am Mittwochmittag ist ein fixes Ritual und oft ein rhetorischer Höhepunkt im Londoner Parlament. Seit Beginn der Nervengift-Affäre finden sich Theresa May und Jeremy Corbyn in vertauschten Rollen wieder: Die konservative Premierministerin und Ex-Innenministerin ist als Hardlinerin, die den Westen und den Großteil der EU zu einer Solidaritätsaktion gegen Russland hinter sich geschart hat, neuerdings in der Offensive.
May hatte die verbündeten Staats- und Regierungschefs in Washington und beim EU-Gipfel in Brüssel von der Bedrohung durch Moskau im Fall des Ex-Doppelagenten Sergej Skripal und inmitten des Cyber-Kriegs überzeugt. Angetrieben von Boris Johnson, ihrem schillernden Außenminister, richtete die noch im Vorjahr schwer ramponierte Tory-Führerin jetzt eine scharfe Warnung an die Feinde des Königreichs, allen voran an die Adresse Russlands, Nordkoreas, des Iran und islamistischer Gruppen. London werde mit allen Kapazitäten zurückschlagen, lautete ihre Botschaft. Theresa May schlüpfte ins Kostüm der „Eisernen Lady“Margaret Thatcher.
Die martialischen Töne sollten beweisen: Großbritannien befindet sich im Verteidigungsmodus. Wie ernst es um den Zustand Sergej Skripals und seiner Tochter Julia bestellt ist, zeigte eine Aussage der Skripal-Nichte Viktoria in der BBC: Ihre Überlebenschancen lägen bei einem Prozent.
Dabei galt May seit der Wahlschlappe im Vorjahr, Parteiintrigen um den Brexit-Kurs und unglücklichen Auftritten – bei der Brandkatastrophe im Grenfall Tower – als Premierministerin auf Abruf. Angesichts des moderaten Fortschritts bei den Brexit-Verhandlungen sind die Kritiker vorläufig verstummt.
Umgekehrt steht der altlinke Labour-Chef Corbyn plötzlich am Pranger. Die laxe Kritik an Moskau weckte den Argwohn der Briten gegen den deklarierten Sozialisten. Obendrein drängte der Protest jüdischer Organisationen gegen antisemitische Tendenzen in der Labour-Partei den Parteichef mit Sympathien für Hisbollah und Hamas ins Abseits, der sich noch vor wenigen Monaten angeschickt hatte, bei etwaigen Neuwahlen die Macht in London zu übernehmen.
Johnson ist die treibende Kraft in der Eskalation mit Moskau. Sein Treffen mit seinem Kollegen Sergej Lawrow im Kreml im Dezember war eisig verlaufen, und nun ging er soweit, Wladimir Putin die Verantwortung für den Giftanschlag zuzuschreiben. Die Fußball-WM in Russland unter der Ägide Putins im Sommer rief bei ihm die Assoziation der Olympischen Spiele in Berlin 1936 unter Adolf Hitler hervor. Johnson, der eine Biografie Winston Churchills geschrieben hat, sieht sich in dessen Tradition.
Während in der Slowakei eine Debatte um die Ausweisung von Diplomaten tobt, gibt es in Österreich kein Anzeichen für einen Sinneswandel. In einem Interview mit der BBC betonte Außenministerin Karin Kneissl die Rolle Österreichs als Brückenbauer im Kalten Krieg und erinnerte an das Treffen zwischen John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow 1961 in Wien. Ähnliches schwebt Kanzler Sebastian Kurz vor. Trotz aller Misstöne zeigt sich Russland indessen offen für einen Gipfel zwischen Donald Trump und Putin – ohne eine Ortsangabe.