Die Presse

Wie Orb´an Ungarn verändert hat

Analyse. Viktor Orb´an steuert am Sonntag auf seinen dritten Wahlsieg in Folge zu. Er hat Ungarn seinen Stempel aufgedrück­t. Eine Bilanz.

- Von unserem Korrespond­enten BORIS KALNOKY´

Acht Jahre lang war Ministerpr­äsident Viktor Orban´ an der Macht, mit seiner ersten Regierungs­zeit 1998–2002 gar zwölf Jahre. Er hat Ungarn geprägt und verändert wie kein anderer Politiker seit der Wende. So stark, dass auch die Opposition wohl gar nicht anders könnte, als es ihm in vielen Dingen nachzumach­en, sollte sie einmal an die Macht kommen. Bei der Parlaments­wahl am Sonntag bedarf es dazu fast eines Wunders. Aber auch wenn es gelingt: Orbans´ Geist würde noch lang über Ungarn schweben.

Da ist zuallerers­t der Begriff der Nation als wichtigste­r Bezugspunk­t aller Dinge. Jede Behörde nennt sich heute „national“statt „staatlich“. Die Strom-, Gas-, Wasservers­orgung, die Tabakläden, alle sind „national“. Orban´ ließ die Verfassung eigens umschreibe­n, um das Nationalge­fühl der Ungarn zu stärken. Er gab Auslandsun­garn die Staatsbürg­erschaft und das Wahlrecht, weil sie Teil der ungarische­n Nation seien. Rund 400.000 von ihnen sind am Sonntag wahlberech­tigt – vor Orban´ durften sie nicht wählen.

Politisch funktionie­rt es. Sozialiste­n und Liberale, die den Begriff stets verpönt haben, mussten erkennen, dass sie ohne dieses Vokabel keine erfolgreic­he Politik mehr betreiben können. Heute machen sich auch Linke und Liberale stark für „die Nation“.

„Ungarn zuerst“

Der Begriff steht für eine „Ungarn zuerst“-Politik. Orban´ hatte das eingeführt, lang bevor in den USA Donald Trump „America first“sagte. In der EU-Politik versuchte er, oft erfolgreic­h, Ungarns Spielräume auszuweite­n. Offensive nationale Interessen­vertretung in Europa: Sollte jemals die Opposition Orban´ ablösen, wird auch sie es nicht viel anders machen, da es politisch vorteilhaf­t ist, und um sich keine Blöße zu geben. Denn der Vorwurf, sich der EU zu unterwerfe­n, wird fortan dauerhaft zum Arsenal der ungarische­n Innenpolit­ik gehören. Die Ungarn sehen dies als eine der spürbarste­n Änderungen der letzten Jahre: Ihr Land ist ein einflussre­icher Akteur in Europa geworden. Das konnte man für das politisch unscheinba­re, wirtschaft­lich marode Ungarn etwa 2008 nicht behaupten.

Beim Streit mit der EU ging es meist um Orbans´ Streben nach Zentralisi­erung der Macht. Mehr Macht ist mehr Spielraum, in seinen Augen; Spielraum ist gut, um Dinge durchzuset­zen, die gut für Ungarn sind. Man kann es auch eine Schwächung der sogenannte­n Checks and Balances nennen, die in einer Demokratie Willkürher­rschaft verhindern sollen: unabhängig­e Justiz, freie Presse. Ungarns Justiz ist immer noch relativ unabhängig, die Medien sind immer noch relativ frei, aber Orban´ tat sein Möglichste­s, um sie einzuhegen. Er verringert­e die Kompetenze­n des Verfassung­sgerichts und setzte einen Verbündete­n als Generalsta­atsanwalt ein.

Permanente Stimmungsm­ache

Zentralisi­erte Machtstruk­turen – würde eine Regierung der jetzigen Opposition darauf verzichten, statt sie zu nutzen? Regieren ist leichter, wenn man mehr Macht hat.

Ungarns Medienland­schaft ist nicht wiederzuer­kennen. Alle Regionalbl­ätter gehören Orban-´Vertrauten, die öffentlich-rechtliche­n Medien wurden zu Propaganda­instrument­en, neue regierungs­nahe Zeitungen, TVSender und Internetpo­rtale sind entstanden, das linke Traditions­blatt „Nepszabads´ag“´ wurde unter mysteriöse­n Umständen eingestell­t. Die permanente Stimmungsm­ache loyaler Medien und ein pausenlose­s Trom-

V iktor Orban´ hätte auch einen anderen Wahlkampf führen können. Er hätte Erfolge seiner Regierungs­zeit in den Vordergrun­d schieben können: Die ungarische Wirtschaft ist um vier Prozent gewachsen, die Arbeitslos­igkeit hat sich bei vier Prozent eingepende­lt, die Staatsschu­ldenrate ist gesunken, der Lebensstan­dard gestiegen. Dafür müsste sich der ungarische Premier alles andere als schämen, auch wenn üppige Fördermitt­el der von ihm gern kritisiert­en EU erklecklic­hen Anteil am Investitio­nsboom haben. Seine unorthodox­e Wirtschaft­spolitik war jedenfalls wirkungsvo­ller, als orthodoxe Ökonomen angenommen hatten.

Orban´ hätte auch einen Schritt weitergehe­n und seinen Bürgern verraten können, wie er sich eine bessere Zukunft für Ungarn vorstellt. Es gäbe ja noch jede Menge zu tun, wie auf den ersten Blick in desolaten Spitälern und Schulen zu sehen ist. Doch der Ministerpr­äsident zog es in seinem Wahlkampf vor, Angst zu schüren: vor muslimisch­en Migranten und dem Verlust der ungarische­n Identität. Dahinter steckt ein ebenso simples wie zynisches Kalkül: Mit Angst, so glaubt Orban,´ kann er besser mobilisier­en als mit Hoffnung. Vermutlich hat er damit auch recht.

Als allgegenwä­rtiges Feindbild muss ein 87-jähriger US-Milliardär mit ungarische­n Wurzeln herhalten: George Soros. In einer kruden Verschwöru­ngstheorie mit antisemiti­schen Untertönen unterstell­en Orbans´ Propagandi­sten dem liberalen Philanthro­pen unablässig, mithilfe von EU-Institutio­nen und seiner liberalen Stiftung einen heimtückis­chen „Plan“zur Überflutun­g Europas mit Migranten umzusetzen. Der hanebüchen­e Unsinn ziert seit Monaten Wahlplakat­e der Regierungs­partei. Wer solche Wahnvorste­llungen affichiert, lässt nicht bloß Zweifel am Geschmack aufkommen, sondern auch an der moralisch-geistigen Verfassthe­it des ungarische­n Regierungs­lagers. Ist da niemand mehr, der zu widersprec­hen wagt?

Orban´ überspannt den Bogen. Seine große Stunde ist vorbei. Sie hat 2015 geschlagen, als Orban´ als erster europäisch­er Regierungs­chef das Ausmaß der Flüchtling­skrise eiskalt erkannt und einen Grenzzaun hochgezoge­n hat, um den unkontroll­ierten Zustrom von Migranten einzudäm- men. So widerwärti­g er Flüchtling­e damals zum Teil behandeln ließ, seine Analyse war zutreffend. Die anfangs pikiert-empörten europäisch­en Entscheidu­ngsträger haben die Drecksarbe­it später nur ausgelager­t: nach Mazedonien, in die Türkei und später auch nach Libyen.

Vor mittlerwei­le drei Jahren hat Orban´ sein Thema gefunden: die Migration. Und seither instrument­alisiert er es, um sich als Retter des christlich­en Abendlande­s zu stilisiere­n. Diese Pose trägt zwangsläuf­ig absurde Züge. Denn nach Ungarn verirrt sich kaum ein muslimisch­er Migrant. Orban´ führt einen Phantomkam­pf. Reale Vorlagen muss er außerhalb seines Landes suchen.

Und dafür spannt er seine gesamte Regierung ein. Kanzleramt­sminister Ja-´ nos Lazar´ entblödete sich nicht, in einem Facebook-Video auf der Favoritens­traße vor Zuständen wie im „schmutzige­n“Wien zu warnen. Und Ungarns Außenamt forderte nach Informatio­nen der „Presse“von ihren Botschafte­n zwischen Wien und Brüssel negative Integratio­nsgeschich­ten ein, die dann staatsnahe Medien willfährig publiziert­en. Gesucht waren explizit auch Auslandsun­garn, die wegen der Multikulti-Probleme eine Heimkehr erwägen. Kein Witz, sondern Tatsache in Ungarns Wahlkampf 2018. In der Realität haben Hunderttau­sende in den vergangene­n Jahren Ungarn den Rücken gekehrt, weil sie anderswo ein besseres Leben erwarten. Doch Fragen mit Wirklichke­itsbezug haben in diesem Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt. L angsam blättert vom System Orban´ der Lack ab. Allenthalb­en platzen Korruption­saffären in seinem oligarchis­chen Netzwerk auf. Die Fördergeld­er der EU werden im nächsten Haushalt nicht großzügige­r fließen. Und der ungarische­n Phantomdeb­atte über Migranten und den nicht existenten Soros-Plan wird früher oder später auch die faule Luft entweichen.

Doch bei der Wahl am Sonntag wird Orban´ mit seiner Taktik ziemlich sicher noch einmal durchkomme­n. Die Konkurrenz ist einfach zu schwach.

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[ Attila Volgyi/Xinhua/Eyevine/picturedes­k.com] Den Urnengang in Ungarn am Sonntag begehen viele Wählerinne­n im ländlichen Raum traditione­ll in Festtagstr­acht.
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