Eine Kindheit im postsowjetischen Chaos
Rauriser Literaturtage. Prominente Autorinnen und Autoren berichten heuer über die Kindheit. Die inzwischen deutsche Autorin Lana Lux war Kind in Ost und West. Ein Gespräch über ihre Erfahrung als Flüchtling und Integrierte.
In diesem Jahr widmen sich die Rauriser Literaturtage dem Thema „Frühe Jahre“. Gemeint sind die Prägungen der Kindheit. In literarischen Texten gibt es dazu verschiedene Zugänge. Ein breites Spektrum daraus hat die Intendanz des Literaturfestivals, der Salzburger Germanist Manfred Mittermayer und die Journalistin, Lehrerin und Übersetzerin Ines Schütz, nach Rauris geholt, darunter Monika Helfer, Peter Henisch, Paulus Hochgatterer, Felix Mitterer, Karin Peschka. Ein spezieller Gast ist die in der Ukraine geborene deutsche Autorin Lana Lux.
Sie habe mindestens zwei Kindheiten gehabt, eigentlich gar keine, sagt sie heute. Denn in der ostukrainischen Millionenstadt Dnipropetrowsk, in der sie 1986 zur Welt kam, musste sie sehr schnell erwachsen werden. Die Umbruchzeit von der einstigen Sowjetrepublik zum eigenständigen Staat Ukraine in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre verlief ziemlich chaotisch. In sowjetischen Zeiten war man zwar arm, aber alles hat funktioniert, und man hatte Vertrauen in die Institutionen. Danach war man nur noch arm. Man ging zwar arbeiten, wurde dafür aber nur mit freien Tagen entlohnt. „Als Kind erscheinen einem furchtbare Dinge oft nicht so furchtbar, sondern selbstverständlich – solang man mit ihnen klarkommt“, reflektiert Lana Lux in Rauris.
Miterleben der Erwachsenenängste
Klarkommen musste sie etwa damit, dass man abends nicht mehr auf die Straße gehen konnte, dass plötzlich eine Menge Junkies unterwegs waren, überall Spritzen und Löffel umherlagen. Alle Hauseingänge bekamen Zahlenschlösser, die Wohnungen kugelsichere Türen und vergitterte Fenster. In der Wohnung war es kalt, weil die Heizung abgeschaltet war, die Badewanne war immer voll Wasser, weil aus der Leitung keines mehr floss, und ob Gas aus dem Herd austrat, probierte man besser nicht aus, weil man sonst ersticken konnte. „Wenn eine Kindheit sehr davon geprägt ist, die Ängste und Sorgen der Erwachsenen mitzuerleben und mitzutragen, und die Sorglosigkeit mit vier beendet ist, dann ist das keine richtige Kindheit.“Damals war sie aber stolz darauf, dass die Gitter vor ihren Fenstern dick und geschwungen waren, im Gegensatz zu den schmalen und flachen der Nachbarn.
Dass Kinder entsetzliche Dinge als „normal“hinnehmen, beschreibt Lana Lux eindringlich in ihrem Debütroman, „Kukolka“. Für die Eltern aber wurde das Leben wegen der Not allmählich unerträglich. Sie wollten nach Israel auswandern. Es sollte anders kommen. Als der Vater von einer Besichti- gungsreise aus Israel zurückkam, hieß es plötzlich: Wir gehen nach Deutschland. „Es war ein Kulturschock“, sagt sie. Mit Israel hätte sie sich abgefunden, aber Deutschland? „Ich habe das als sehr falsch erlebt.“Im Alter von zehn Jahren kam Lana Lux als „Kontingentflüchtling“zuerst in ein Flüchtlingslager bei Dortmund, dann nach Gelsenkirchen. Heute lebt sie mit ihrem Mann und einer Tochter in Berlin. Es liegt nahe, sie sowohl nach der Situation von Flüchtlingen als auch nach dem Konflikt in der Ostukraine zu befragen. Das haben viele deutsche Medien auch schon getan.
Anders als so mancher Autor, der sich zu vorschnellen Urteilen hinreißen lässt, möchte sich Lana Lux nicht als Expertin aufspielen, nur weil sie dort geboren wurde. „Ich bin keine Politikwissenschaftlerin. Ich stelle mich auf keine Seite, nur weil ich gerade in der Position bin, dass mir Leute zuhören. Ich habe genauso wenig Ahnung wie alle anderen auch. Dass ich in der Ukraine geboren wurde, macht mich nicht automatisch zu einer Expertin dieses Landes. Ich glaube sogar, dass viele Menschen, die dort sind, die Frage nicht beantworten können, jedenfalls nicht objektiv.“
Die „Freiheit“im Flüchtlingslager
Lieber erzählt sie vom Flüchtlingslager und der „grenzenlosen Freiheit hinter dem Zaun“. Es gab dort einen Spielplatz, man konnte durch die Felder streifen. Für die Eltern war es anders. Bei ihnen erweckten die Appelle zum Hofputzen drastische Assoziationen. Davon hat das Kind nichts mitbekommen. Erstmals konnte es jederzeit rausgehen und sich sicher fühlen. Außerdem gab es einen Supermarkt, in dem man jede Menge Junkfood kaufen konnte. Fantastisch! Manche dieser Erfahrungen gingen in ihren Roman ein, in dem sie sehr direkt von einem ukrainischen Waisenkind erzählt, das in Deutschland zur Zwangsprostituierten wird.
Als Flachlandbewohnerin spricht sie in Rauris aber lieber über ihre Liebe zu den Bergen, über ihre Wanderlust und ihre Freude am Skifahren. Das hat sie bei einem Urlaub in Südtirol gelernt. Und genießt ihren Aufenthalt im frühlingshaften Rauristal.