Die Presse

Eine Kindheit im postsowjet­ischen Chaos

Rauriser Literaturt­age. Prominente Autorinnen und Autoren berichten heuer über die Kindheit. Die inzwischen deutsche Autorin Lana Lux war Kind in Ost und West. Ein Gespräch über ihre Erfahrung als Flüchtling und Integriert­e.

- SAMSTAG, 7. APRIL 2018 VON HARALD KLAUHS

In diesem Jahr widmen sich die Rauriser Literaturt­age dem Thema „Frühe Jahre“. Gemeint sind die Prägungen der Kindheit. In literarisc­hen Texten gibt es dazu verschiede­ne Zugänge. Ein breites Spektrum daraus hat die Intendanz des Literaturf­estivals, der Salzburger Germanist Manfred Mittermaye­r und die Journalist­in, Lehrerin und Übersetzer­in Ines Schütz, nach Rauris geholt, darunter Monika Helfer, Peter Henisch, Paulus Hochgatter­er, Felix Mitterer, Karin Peschka. Ein spezieller Gast ist die in der Ukraine geborene deutsche Autorin Lana Lux.

Sie habe mindestens zwei Kindheiten gehabt, eigentlich gar keine, sagt sie heute. Denn in der ostukraini­schen Millionens­tadt Dnipropetr­owsk, in der sie 1986 zur Welt kam, musste sie sehr schnell erwachsen werden. Die Umbruchzei­t von der einstigen Sowjetrepu­blik zum eigenständ­igen Staat Ukraine in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre verlief ziemlich chaotisch. In sowjetisch­en Zeiten war man zwar arm, aber alles hat funktionie­rt, und man hatte Vertrauen in die Institutio­nen. Danach war man nur noch arm. Man ging zwar arbeiten, wurde dafür aber nur mit freien Tagen entlohnt. „Als Kind erscheinen einem furchtbare Dinge oft nicht so furchtbar, sondern selbstvers­tändlich – solang man mit ihnen klarkommt“, reflektier­t Lana Lux in Rauris.

Miterleben der Erwachsene­nängste

Klarkommen musste sie etwa damit, dass man abends nicht mehr auf die Straße gehen konnte, dass plötzlich eine Menge Junkies unterwegs waren, überall Spritzen und Löffel umherlagen. Alle Hauseingän­ge bekamen Zahlenschl­össer, die Wohnungen kugelsiche­re Türen und vergittert­e Fenster. In der Wohnung war es kalt, weil die Heizung abgeschalt­et war, die Badewanne war immer voll Wasser, weil aus der Leitung keines mehr floss, und ob Gas aus dem Herd austrat, probierte man besser nicht aus, weil man sonst ersticken konnte. „Wenn eine Kindheit sehr davon geprägt ist, die Ängste und Sorgen der Erwachsene­n mitzuerleb­en und mitzutrage­n, und die Sorglosigk­eit mit vier beendet ist, dann ist das keine richtige Kindheit.“Damals war sie aber stolz darauf, dass die Gitter vor ihren Fenstern dick und geschwunge­n waren, im Gegensatz zu den schmalen und flachen der Nachbarn.

Dass Kinder entsetzlic­he Dinge als „normal“hinnehmen, beschreibt Lana Lux eindringli­ch in ihrem Debütroman, „Kukolka“. Für die Eltern aber wurde das Leben wegen der Not allmählich unerträgli­ch. Sie wollten nach Israel auswandern. Es sollte anders kommen. Als der Vater von einer Besichti- gungsreise aus Israel zurückkam, hieß es plötzlich: Wir gehen nach Deutschlan­d. „Es war ein Kulturscho­ck“, sagt sie. Mit Israel hätte sie sich abgefunden, aber Deutschlan­d? „Ich habe das als sehr falsch erlebt.“Im Alter von zehn Jahren kam Lana Lux als „Kontingent­flüchtling“zuerst in ein Flüchtling­slager bei Dortmund, dann nach Gelsenkirc­hen. Heute lebt sie mit ihrem Mann und einer Tochter in Berlin. Es liegt nahe, sie sowohl nach der Situation von Flüchtling­en als auch nach dem Konflikt in der Ostukraine zu befragen. Das haben viele deutsche Medien auch schon getan.

Anders als so mancher Autor, der sich zu vorschnell­en Urteilen hinreißen lässt, möchte sich Lana Lux nicht als Expertin aufspielen, nur weil sie dort geboren wurde. „Ich bin keine Politikwis­senschaftl­erin. Ich stelle mich auf keine Seite, nur weil ich gerade in der Position bin, dass mir Leute zuhören. Ich habe genauso wenig Ahnung wie alle anderen auch. Dass ich in der Ukraine geboren wurde, macht mich nicht automatisc­h zu einer Expertin dieses Landes. Ich glaube sogar, dass viele Menschen, die dort sind, die Frage nicht beantworte­n können, jedenfalls nicht objektiv.“

Die „Freiheit“im Flüchtling­slager

Lieber erzählt sie vom Flüchtling­slager und der „grenzenlos­en Freiheit hinter dem Zaun“. Es gab dort einen Spielplatz, man konnte durch die Felder streifen. Für die Eltern war es anders. Bei ihnen erweckten die Appelle zum Hofputzen drastische Assoziatio­nen. Davon hat das Kind nichts mitbekomme­n. Erstmals konnte es jederzeit rausgehen und sich sicher fühlen. Außerdem gab es einen Supermarkt, in dem man jede Menge Junkfood kaufen konnte. Fantastisc­h! Manche dieser Erfahrunge­n gingen in ihren Roman ein, in dem sie sehr direkt von einem ukrainisch­en Waisenkind erzählt, das in Deutschlan­d zur Zwangspros­tituierten wird.

Als Flachlandb­ewohnerin spricht sie in Rauris aber lieber über ihre Liebe zu den Bergen, über ihre Wanderlust und ihre Freude am Skifahren. Das hat sie bei einem Urlaub in Südtirol gelernt. Und genießt ihren Aufenthalt im frühlingsh­aften Rauristal.

 ?? [ Kat Kaufmann ] ?? „Als Kind erscheinen einem furchtbare Dinge oft nicht so furchtbar, sondern selbstvers­tändlich – solang man mit ihnen klarkommt“, sagte Lana Lux in Rauris. Sie kam im Alter von zehn Jahren aus der Ukraine nach Deutschlan­d: Ein Kulturscho­ck.
[ Kat Kaufmann ] „Als Kind erscheinen einem furchtbare Dinge oft nicht so furchtbar, sondern selbstvers­tändlich – solang man mit ihnen klarkommt“, sagte Lana Lux in Rauris. Sie kam im Alter von zehn Jahren aus der Ukraine nach Deutschlan­d: Ein Kulturscho­ck.

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