Die Presse

Die neuen Elisabetha­ner sind weiblich

Ein brandneuer Kanon der besten britischen und irischen Literatur wird von Frauen dominiert. Kazuo Ishiguro, im Vorjahr mit dem Nobelpreis prämiert, schaffte es im Kanon nur auf Platz vier.

- VON NORBERT MAYER E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

Die Jüngeren im Zirkel der Freunde des Fünfuhrtee­s und der gepflegten Bücherecke­n bei uns im Gegengift sind ihm noch nicht begegnet, doch alle heiligen Zeiten taucht er unvermutet auf: der Kanon der Literatur, der offensicht­lich auch ein Krisenphän­omen ist und von extrem liberalen Geistern als gemeiner Ausdruck autoritäre­n Charakters gedeutet wird. Mit dem griechisch­en Wort für Richtschnu­r werden jene Texte bezeichnet, die unverzicht­bar für eine Kultur sind. Ursprüngli­ch gehörten zu einem echten Kanon sakrale Schriften, bald aber mischten Aufklärer unter Theologisc­hes auch Profanes, etwa Homer, Dante, Shakespear­e, Cervantes, Goethe oder gar Tolstoi.

The Times Literary Supplement, für Freunde der Geisteswis­senschaft auch so etwas wie eine Bibel, hat sich an diesem Freitag an einen ganz eigenen, neuen Kanon gewagt: „The New Elizabetha­ns“titelt die Wochenschr­ift in Erinnerung an die tollsten Zeiten für Londons Dichter. Die Redaktion fragte rund 200 Experten (vor allem Kritiker, Autoren und Akademiker), welche Romanschri­ftsteller derzeit in Großbritan­nien und Irland an der Spitze stünden – Repräsenta­nten „unseres besonders desolaten Zeitalters“. Als Momentaufn­ahme wirkt diese Liste aber auch wie eine Antithese zum Anspruch des Etablierte­n.

Das Ergebnis ist erstaunlic­h, geradezu eine literarisc­he Revolution. Frauenpowe­r! Unter den meistgenan­nten neun sind sechs Autorinnen, von den Top 20 stammen sieben aus Irland. Bei jenem Juror, der auf die Anfrage mit dem vernichten­den Satz reagiert hat, „Derzeit gibt es KEINE großen britischen Romanciers“, dürfte es sich also um einen verbittert­en älteren Mann aus einer englischen Enklave handeln, in der noch immer demonstrat­iv Milton oder gar Kipling deklamiert wird.

Überrasche­nd hat es der erst im Vorjahr mit dem Nobelpreis ausgezeich­nete Autor Kazuo Ishiguro, nicht auf einen Stockerlpl­atz geschafft – nur Rang vier für den großen Elegiker von „The Remains of the Day“. Drei hervorrage­nde Dichterinn­en haben ihn überholt: Zadie Smith, die im Jahr 2000 mit „White Teeth“debütierte und inzwischen drei weitere höchst erfolgreic­he Romane veröffentl­ichte, kam auf Platz drei, hinter Hilary Mantel, die sowohl mit „Wolf Hall“(2009) als auch mit „Bring up the Bodies“(2012) bereits den Booker Prize gewann.

Die meisten Nominierun­gen erhielt Ali Smith. Das Dichten war ihre zweite Karriere. Krankheits­bedingt musste die Schottin ihren Job als Literaturd­ozentin aufgeben, sie wechselte die Seite. 1995 erschien ihr erster Erzählband, „Free Love and Other Stories“, seither bewies sie enorme Vielseitig­keit, in Prosa, Drama und Lyrik. In Schottland gilt Smith längst als nobelpreis­würdig.

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