Hybrider Krieg, Doping, Skripal: Ich bin trotzdem prorussisch
Nur an eines kann ich mich als Russophiler nicht gewöhnen: dass das Putin-Regime lügt, dass sich die Balken biegen.
D er Zeitpunkt ist denkbar unpassend, umso mehr juckt es mich, die Russen zu verteidigen. Ich liebe nämlich das Russische, den „russkij tschelowek“, den „russischen Menschen“. Ich kann bestätigen, dass es die viel bespottete russische Seele gibt. Sie ist mir begegnet. Mir ist Russland auch nicht zu groß. Hätten die Zaren ihren ewigen Traum verwirklicht, Konstantinopel den Muselmanen abzunehmen, sänge ich ihnen zur Balalaika ein Loblied.
Russischsprachige oder artverwandte Regionen, die zu Russland gehören wollen, sollen von mir aus nach einer international überwachten Volksabstimmung dazugehören. So gut wie die Freiheitlichen habe ich es nicht, ich bin nicht mit der Regierungspartei verbündet, der Kreml pfeift auf mich. Mein Traum von der Transsibirischen endete damit, dass ich meinen Visumantrag vor dem Konsulatsbeamten zerriss. Das war nichts Politisches, die russische Bürokratie ist einfach viel desorganisierter, als sich das unsere Putin-Fürchter vorzustellen vermögen.
Putin hat Anhänger quer durch Europa. Viele von ihnen waren nie in Russland und wollen auch nie hin. Die Anziehungskraft seines Herrschaftsmodells auf Europäer ist verständlich: Putin ist besessen von der Mehrheit, während die EU von Minderheiten besessen ist. Putin gibt erst Ruhe, wenn er 76,6 Prozent bekommt. Hier fände ich die Mitte vernünftig. Wenn die EU den Willen der Mehrheit hören würde, wäre Russland kein interner Faktor.
Gerade als Russophiler kann ich mich nicht an die Rolle der Lüge im Putin-Regime gewöhnen: Krim, Ostukraine, Doping – da biegen sich die Balken. Ich kann das umso weniger begreifen, da mich einfache Russen mit ihrer Wahrhaftigkeit beeindrucken, mit der Weite ihrer Seele. Nun ja, der KGB-Mann ist gut im Demontieren des Gegners. Das Aufbauen gelingt ihm weniger gut, die Eurasische Union kommt kaum voran. A ber in Syrien hat Putin mit offenen Karten gespielt. In einem Krieg, in dem es die gute Seite nicht gibt, hat sich der Westen mit dem sicheren Instinkt eines Idioten auf die falscheste aller Seiten geschlagen – zu sunnitischen Islamisten unterschiedlicher Couleur. Wenn überhaupt, hätte der Westen seine schützende Hand über unsere christlichen Brüder halten müssen. Diesen Lorbeerkranz hat stattdessen Putin auf. In Syrien hat er seine beschränkten Möglichkeiten voll ausgereizt. Diesen Triumph kann er nicht mehr überbieten.
In der Causa Skripal halte ich Österreichs Position momentan für richtig. Es ist nicht nur neutral, sondern auch klug, sich einer Ausweisungswelle zu verweigern, die an die Hexenjagd auf alles Russische in den USA anknüpft. Die Briten müssen Beweise zeigen.
Ich habe weder Vertrauen in Sergej Lawrow, der so begnadet lügt wie sein Chef, noch in sein britisches Gegenüber, Boris Johnson, der wie kein anderer die Dekadenz einer Hochkultur verkörpert. Dass Johnson den Täter im Kreml sieht, scheint mir gewagt. Zur Fußball-WM, die Putin wie Sotschi 2014 als guter Gastgeber bestreiten will, wird diese Affäre so benötigt wie ein Stein am Schädel. Ich weiß es nicht, da könnten auch Leute aus russischen Diensten auf eigene Rechnung gespielt haben – oder es ist ganz anders.
Wenn es aber wahr ist, dass der Kreml in Europa Gift verstreut, ist ein ausgewiesener Diplomat eine viel zu harmlose Reaktion. Wenn es unwahr ist, zählen wir wieder nur zu den Lemmingen.