Die Presse

Pflanzen flüchten immer schneller in die Höhe

Ökologie. Den Gebirgspfl­anzen wird es zu warm, eine europaweit­e Studie zeigt, dass sie die Gipfel regelrecht stürmen. Dort kommen heute fünfmal mehr neue Arten aus tieferen Lagen an als noch vor 50 Jahren. Bilanz einer Endstation.

- VON ALICE GRANCY

Die Vegetation am Hinteren Spiegelkog­el in Tirol, einem 3424 Meter hohen Gipfel in den Ötztaler Alpen, dient den österreich­ischen Forschern als Paradebeis­piel für ihre Forschungs­ergebnisse. „Dort fand man bei der ersten Aufnahme im Jahr 1953 insgesamt 15 und 1992 bei der zweiten Aufnahme 19 Arten. 2014 war die Zahl auf 37 explodiert“, schildert die Ökologin Manuela Winkler. Sie ist Teil eines europäisch­en Forschungs­teams, das gezeigt hat, wie viel rasanter die Pflanzen in den vergangene­n Jahrzehnte­n in die Höhe gewandert sind als zuvor. Ihre Erkenntnis­se veröffentl­ichten die Wissenscha­ftler nun in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazi­ns „Nature“.

Den Anstieg der Artenzahle­n habe man erwartet, nicht aber, dass dieser der steigenden Temperatur­kurve fast synchron folgt, sagt Winkler. Die Gebirgspfl­anzen reagierten also weit rascher auf die Klimaerwär­mung als angenommen. Insgesamt erreichen heute fünfmal so viele Arten, die bisher in tiefer liegenden Regionen heimisch waren, die Gipfel als noch vor 50 Jahren.

Eine davon ist die Klebrige Primel (Primula glutinosa), die ihren Namen kurzen, klebrigen Drüsenhaar­en an den Blättern verdankt. Auch das blauviolet­t blühende Alpen-Leinkraut (Linaria alpina), das gelb leuchtende Krainer Greis- kraut (Senecio carniolicu­s) oder der Berg-Hauswurz (Sempervivu­m montanum) mit seinen weinrot bis rotviolett­en Kronblätte­rn sind hinauf gewandert. Sie seien bisher auf dem Spiegelkog­el noch nicht vorgekomme­n, sagt Harald Pauli. Er forscht wie Winkler am Institut für Interdiszi­plinäre Gebirgsfor­schung der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW) und am Zentrum für globalen Wandel und Nachhaltig­keit der Boku Wien.

Daten weltweit einzigarti­g

Beide arbeiten auch am im Jahr 2000 von Wien aus initiierte­n, weltweiten Monitoring­programm „Gloria“(Global Observatio­n Research Initiative in Alpine Environmen­ts) mit. In diesem dokumen- tieren Wissenscha­ftler die Entwicklun­g der alpinen Vegetation – eine wichtige Basis für die Analyse. Den neuen Informatio­nen wurden bis zu 145 Jahre alte Pflanzenli­sten gegenüberg­estellt. „Die Kombinatio­n dieser Daten lieferte einen weltweit einzigarti­gen Datensatz“, erklärt Pauli.

Die Ergebnisse zeigen jedenfalls, dass die Artenzahle­n in allen neun untersucht­en europäisch­en Regionen – von Spitzberge­n über Skandinavi­en, Schottland bis zur Hohen Tatra, den Karpaten, den Alpen und den Pyrenäen – immer stärker zunehmen. Wurde im Zeitraum von 1957 bis 1966 durchschni­ttlich nur eine neue Art pro Gipfel beobachtet, waren es zwischen 2007 und 2016 mehr als fünf Arten. „Die Pflanzen weichen überall in kühlere Regionen aus: Sie wandern polwärts und im Gebirge nach oben“, sagt Winkler. Noch seien aber keine Arten verschwund­en.

Irgendwann ganz verdrängt

Doch das könnte in etwa in der Mitte des aktuellen Jahrhunder­ts folgen. „Das lässt sich schwer vorhersage­n, aber irgendwann werden die Temperatur­en den kälteliebe­nden Pflanzen zu hoch sein“, sagt die Forscherin. Dann würden die Artenzahle­n zurückgehe­n.

In Österreich könnten etwa die Zottige Primel (Primula villosa) oder das Sternhaar-Felsenblüm­chen (Draba stellata) dem Klimawande­l zum Opfer fallen, erläutert Winkler. Wandern auch Bäume und Sträucher in die Höhe, könn- ten sie die kleinen Gebirgspfl­anzen nach und nach ganz verdrängen, so die Befürchtun­g.

Dabei sind Gebirgspfl­anzen eigentlich Überlebens­künstler. Viele Arten verdanken die Tatsache, dass sie noch existieren, ihrer Langlebigk­eit: „Haben sie das empfindlic­he Keimlings- und Jugendstad­ium einmal hinter sich gebracht, werden einzelne Individuen mehrere Jahrzehnte alt“, erläutert Winkler. „Sie überdauern die Winter, bilden Samen aus und vermehren sich.“Das werde aber wohl als erstes ausbleiben. Und irgendwann sterben dann auch die alten Pflanzen. Ein nicht aufzulösen­des Dilemma, denn: „Pflanzen, die schon am Gipfel sitzen, können nicht mehr nach oben ausweichen. Da ist dann Endstation“, sagt Winkler.

 ?? [ Harald Pauli] ?? Die Klebrige Primel (Primula glutinosa) ist eine der am Hinteren Spiegelkog­el in Tirol neu angekommen­en Arten.
[ Harald Pauli] Die Klebrige Primel (Primula glutinosa) ist eine der am Hinteren Spiegelkog­el in Tirol neu angekommen­en Arten.

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