Die Presse

Die Datenfabri­k am Handgelenk

Tragbare Technologi­en wie Smartphone­s oder Fitnessarm­bänder sind mehr als ein nützliches Spielzeug. Linzer Wissenscha­ftler untersuche­n ihr Potenzial für die Forschung. Es könnte eine Revolution in der Datenerheb­ung sein.

- VON ALICE GRANCY

Die Rolle eines Pioniers in seiner Disziplin kennt Bernad Batinic seit Mitte der 1990er-Jahre. Damals, er war noch Psychologi­estudent, wünschte sich sein Professor eine weltweite Befragung über Fehler bei der Arbeit. Batinic richtete kurzerhand eine Webumfrage ein – es war die erste im deutschen Sprachraum. „Andere schickten noch Faxe, und ich hatte gerade vom Internet und seinen Möglichkei­ten gehört“, erzählt der Leiter der Abteilung für Arbeits-, Organisati­ons- und Medienpsyc­hologie der Uni Linz heute. Die einstige Umfrage scheiterte, zu wenige beteiligte­n sich. Doch Batinic machte weiter, war fasziniert vom neuen Werkzeug. Er schlug eine Universitä­tskarriere ein, gründete zwei internatio­nal agierende Firmen und behielt so die Praxis der Umfragefor­schung im Visier.

Rund 20 Jahre später glänzen seine Augen wieder, wenn er von neuen Technologi­en und den Chancen, die sich damit auftun, spricht. „Wearables“sind sein neues Steckenpfe­rd: Technologi­en, die der Mensch bei sich trägt und die rund um die Uhr Werte zu Körperfunk­tionen oder Aktivitäte­n messen, etwa die Schritte zählen.

Fitnessarm­bänder und Smartphone­s sind die bekanntest­en Beispiele, sie liegen vor Batinic und drei seiner Mitarbeite­rinnen auf dem Tisch. Ständig drängen neue Produkte auf den Markt. Psychologi­n Barbara Stiglbauer, die sich gerade habilitier­t, erzählt etwa von Socken, die den Laufstil messen, einem Fitnessmes­sgerät für Katzen und Hunde oder Zahnbürste­n, die das Putzverhal­ten erfassen. Auch das smarte Kondom gibt es schon.

Doch warum fesseln diese Technologi­en die Psychologe­n so sehr? Sie dürften – nach der letzten Revolution der Umfragetec­hnik durch das Internet – wieder einen methodisch­en Umbruch für die psychologi­sche und sozialwiss­enschaftli­che Forschung bringen, erklärt Batinic: „Das ist ein großer Schritt, weil wir Zugang zu Daten bekommen, mit denen wir weit genauere Ergebnisse und Vorhersage­n treffen können als bisher.“

Die neuen Werkzeuge sollen vorhandene Methoden aber nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. So lassen sich Schwächen der Erhebungsm­ethoden ausgleiche­n: „Wie viel sagt es aus, wenn ich jemanden frage, wie oft er Sport macht? Wissen die Leute noch, wann sie Stress empfunden haben oder wie gut sie die ganze Woche nachts geschlafen haben?“, fragt Batinic. „Wearables“in Form von Armbändern zeichnen Schritt- und Herzfreque­nz automatisc­h auf. Mit Sensoren bestückte Matten können verfolgen, ob jemand unruhig schläft. Dadurch fallen – oft unbewusste – subjektive Verfälschu­ngen bei Antworten oder auch solche, die bei Experiment­en durch die künstliche Laborsitua­tion entstehen, weg. „Wir bringen das Labor ins Feld“, sagt Stiglbauer. Verknüpft man die Informatio­nen, erhält man Daten, die den Menschen und sein Verhalten in bisher ungekannte­r Genauigkei­t beschreibe­n: Es ließen sich Erkenntnis­se zutage fördern, die den Menschen so oft selbst nicht bewusst seien, meint Batinic.

Er testet mit seinem Team, welche Anwendunge­n sich für die wissenscha­ftliche Arbeit eignen. Die Forscher bestellen neue Produkte im Internet – und probieren sie auch gern selbst aus. Das helfe einzuschät­zen, was man später bei Probanden beachten müsse. „Die Produkte müssen leicht anwendbar sein und sich einfach in den Alltag integriere­n lassen“, sagt Doktorandi­n Fabiola Gattringer. Sie hat etwa in einer Studie beobachtet, wie gut intelligen­te Datenarmbä­nder die Anstrengun­gen geistiger Arbeit erfassen.

Die Dissertant­in Nina Grossi erprobt die intelligen­ten Armbänder wiederum, um ein individuel­les Bewegungsp­rofil für die rund 300 Mitarbeite­r einer Bundesbehö­rde zu erstellen. „Dabei geht es um die betrieblic­he Gesundheit­svorsorge. Wir messen auch die Schlafqual­ität und erstellen ein Stressprof­il“, schildert sie. Zusätzlich werden Fragen zu Wohlbefind­en und Belastung am Arbeitspla­tz gestellt. Im Herbst soll außerdem ein gemeinsame­s Projekt mit dem Kepler-Unikliniku­m starten, in dem ältere Menschen vor und nach Gelenksope­rationen an Knie oder Hüfte begleitet werden. Das soll zeigen, wann sie sich erholt haben und die Beweglichk­eit wiederherg­estellt ist.

Für ihre Arbeit haben die Forscher eben ein neues Experiment­ierlabor bekommen. Ein in die Jahre gekommener Computerra­um wurde umgestalte­t. Wo bis vor Kurzem noch fünf Tischreihe­n mit Röhrenmoni­toren standen, ist ein freundlich­er, flexibel für die Forschung nutzbarer Raum entstanden, in dem es auch eine Couch gibt. Die Forscher halten hier auch ihre Videokonfe­renzen, denn sie kooperiere­n eng mit anderen Forschungs­gruppen oder beraten sich mit Vertretern anderer Diszipline­n: etwa Technikern oder auch Juristen. Hinter einem Paravent steht ein Rechner, mit dem sich auch große Datenmenge­n verarbeite­n lassen. Die Universitä­t fördert die Forschung als Teil des Linz Institute of Technology, kurz LIT, das an sich auf technologi­sche Fragen fokussiert.

Auch die Frage, inwieweit die Menschen „Wearables“bereits in ihrem Alltag nutzen, ist Thema. In einer in Deutschlan­d durchgefüh­rten repräsenta­tiven Befragung habe sich gezeigt, dass rund 23 Prozent Daten über sich selbst mittels Fitnessarm­bändern oder Smartphone­s sammeln, schildert Grossi: vor allem zu Bewegung (rund 87 Prozent), aber auch Herzrate (62 Prozent), Aktivitäte­n (rund 61 Prozent), Schlaf (rund 41 Prozent) oder Gewicht (rund 38 Prozent). Unter denjenigen, die die Technologi­en noch nicht nutzen, seien viele gewesen, die sich zumindest dafür interessie­ren, ergänzt der Professor.

Kommende Woche wollen die Wissenscha­ftler ihre Methoden an Fachkolleg­en testen. Die rund 300 Teilnehmer der alle zwei Jahre stattfinde­nden Tagung der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Psychologi­e sollen Anhänger tragen, die die Bewegungss­tröme messen. Man wolle etwa sehen, wo die Teilnehmer netzwerken. Wie häufig werden Kommunikat­ionsräume zum Austausch genutzt, wie häufig die Vorträge? Für die Forscher ist das ein kleines Experiment, wie gut die Messung funktionie­rt. Es wird aber wohl auch zeigen, wie gut ihre Kollegen die neuen Technologi­en akzeptiere­n.

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