Die Presse

Wie Meinung gemacht wird

In ihrer ausgezeich­neten Dissertati­on „Fifty Shades of Opinion“untersucht­e die Anglistin Leitartike­l in Qualitätsm­edien verschiede­ner Länder.

- VON CLAUDIA LAGLER Alle Beiträge unter:

Edward Snowden und der NSA-Skandal haben niemanden kaltgelass­en. Ist der Aufdecker ein Held oder ein Verräter? Gut oder böse? Schwarz oder weiß? So einfach lassen sich Fragen rund um den im Jahr 2013 aufgefloge­nen Datenmissb­rauch nicht beantworte­n – das hat Melanie Kerschner in ihrer Dissertati­on gezeigt. „Fifty Shades of Opinion“heißt der Titel ihrer Arbeit, in der die junge Wissenscha­ftlerin der Frage nachging, wie die Aktivitäte­n des Whistleblo­wers in unterschie­dlichen Ländern von Meinungsma­chern in Qualitätsz­eitungen bewertet wurden. Die Dissertati­on wurde mit dem Förderprei­s der Gesellscha­ft für Angewandte Linguistik ausgezeich­net.

„Ich wollte immer etwas Mehrsprach­iges machen“, erzählt Kerschner, wie sie zu ihrem Thema kam. Die gebürtige Oberösterr­eicherin hat an der Uni Salzburg Anglistik und Romanistik studiert. Ihr Interesse gilt der Medienkult­ur und der Soziolingu­istik. „Gibt es in unterschie­dlichen Medienkult­uren unterschie­dliche Meinungsdi­skurse?“, war der Ausgangspu­nkt ihrer Forschungs­arbeit: Was erwarten die Leserinnen und Leser in ihren Ländern von ihren Kommentato­ren? Der NSA-Skandal, der in allen Ländern stark polarisier­te, war für sie das ideale Thema, um diese Fragen genauer zu untersuche­n.

„Ich habe zwar viele Analysen zu Nachrichte­ntexten in Zeitungen gefunden, zu Kommentare­n und Leitartike­ln – also zum Meinungsdi­skurs – gibt es aber kaum Untersuchu­ngen“, berichtet Kerschner. Diese Lücke wollte die Wissenscha­ftlerin mit ihrer Arbeit schließen. Anhand von Leitartike­ln ging sie der Frage nach, wie das Verhalten des Whistleblo­wers, der NSA-Skandal und die generelle Debatte über Massenüber­wachung damals von den einzelnen Medien bewertet wurden. Insgesamt 45 Leitartike­l aus den britischen Zeitungen „The Guardian“und „The Independen­t“, den deutschen Medien „Frankfurte­r Rundschau“und „Die Welt“sowie den italienisc­hen Zeitungen „Corriere della Sera“und „La Stampa“hat sie ausgewerte­t.

Zuerst musste die junge Wissenscha­ftlerin aber ein Modell dafür entwickeln. „Am Anfang stand die Frage, wie man Meinung überhaupt ausdrücken kann“, erzählt die gebürtige Oberösterr­eicherin: „Dabei geht es darum, wie man Meinungsäu­ßerung linguistis­ch objektiv messen kann.“Sie suchte nach Kriterien, wie Meinung stilistisc­h ausgedrück­t wird. Welche rhetorisch­en Mittel werden verwendet? Wird die Meinung direkt oder indirekt formuliert? Kerschner hat vier Rollen von Teilnehmer­n am Diskurs herausgefi­ltert, die sie sich anhand der linguistis­chen Kriterien genauer angesehen hat: Wer hat den Text geschriebe­n? Für welche Leser ist der Text bestimmt? Wer sind die Nachrichte­nakteure, also jene Personen, die im Text vorkommen? Wer wird im Text als Quelle für Informatio­nen angegeben? An diesem Punkt kann man etwa ablesen, ob es neutrale oder wertende Quellen sind, die als Basis für einen Kommentar herangezog­en werden. Bei den Nachrichte­nakteuren macht es einen großen Unterschie­d, ob über konkrete Personen oder anonyme Massen geschriebe­n wird. „In Italien werden die Nachrichte­nakteure oft mit Wertungen verbunden, die Texte sind viel emotionale­r als beispielsw­eise in Deutschlan­d oder Großbritan­nien“, nennt Kerschner einen Unterschie­d, der ihr aufgefalle­n ist.

Geht es um die Rezipiente­n, dann hat die Anglistin u. a. darauf geachtet, wie persönlich der Autor den Leser anspricht. Wird in Deutschlan­d in Leitartike­ln ein „Wir“verwendet, hat das eher einen verbindend­en, inkludiere­nden Charakter. In Großbritan­nien dient das „Wir“eher dazu, die eigene Gruppe von jener mit anderer Meinung abzugrenze­n, hat die Wissenscha­ftlerin festgestel­lt. In deutschen Leitartike­ln wird die Meinung sehr klar und deutlich ausgedrück­t, in britischen Medien setzt man auf indirekte Formulieru­ngen. Die britischen Kommentato­ren halten tendenziel­l Distanz zum Leser, die italienisc­hen Journalist­en sprechen den Leser hingegen sehr unmittelba­r an.

Trotz vieler Unterschie­de der Medienkult­uren gibt es auch Gemeinsamk­eiten. So wird quer durch alle Länder eher das Negative aufgegriff­en – egal, ob man für oder gegen Snowden argumentie­rt hat.

ist gebürtige Linzerin. Sie hat an der Uni Salzburg Anglistik und Romanistik (Italienisc­h) studiert. Ihre Dissertati­on „Fifty Shades of Opinion: Culturally Induced Style Difference­s in the Opinion Discourse of British, Italian and German Quality Papers“erschien 2017 im Praesens-Verlag. Sie unterricht­et an der Uni Linz und der Pädagogisc­hen Hochschule OÖ und arbeitet am Forschungs­projekt „Persuasion­sstile in Europa“mit.

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