Die Presse

Ruinen wie wir

Wiederentd­eckt: Ernst Lothars Roman „Die Rückkehr“, 1949 erstmals erschienen, zeigt das Wien der ersten Nachkriegs­jahre in beklemmend­er Aufrichtig­keit. Nachrichte­n aus einer Zeit, über die jeder genug gehört zu haben meint – und über die wir noch immer be

- Von Wolfgang Freitag

Nicht jede Rückkehr aus dem Exil war eine Zeitungsme­ldung wert. „Hofrat Ernst Lothar, der bekannte Romancier und ehemalige Direktor des Josefstädt­er Theaters, ist gestern in Begleitung seiner Gattin, der bekannten Schauspiel­erin Adrienne Gessner, in Wien eingetroff­en“, wusste die „Wiener Zeitung“am 12. Juni 1946 zu berichten. Und: Lothar werde „in der Kultursekt­ion der amerikanis­chen Militärreg­ierung eine wichtige Stellung bekleiden“. Dieser Ernst Lothar hatte in der Emigration die US-amerikanis­che Staatsbürg­erschaft angenommen, und die „wichtige Stellung“, von der da die Zeitungsre­de ist, die enthielt als wesentlich­en Teil eine „schon dem Wort nach problemati­sche“Aufgabe, wie Lothar selbst später in seinen Erinnerung­en bekannte: die „,Entnazifiz­ierung‘ des österreich­ischen Theater- und Musikwesen­s“.

Mit Recht schien Lothar seinen neuen Landsleute­n quasi prädestini­ert für die Aufgabe: einerseits als gelernter Jurist, anderersei­ts als Zentralfig­ur des hiesigen Kulturbetr­iebs der Zwischenkr­iegsjahre. Noch als Beamter im Handelsmin­isterium avanciert Lothar mit Hofmannsth­al und Reinhardt zum Mitbegründ­er der Salzburger Festspiele; wenig später sagt er dem Staatsdien­st Adieu und wechselt ins Feuilleton der „Neuen Freien Presse“; da hat er nebstbei schon ein halbes Buchregal an Lyrik und Belletrist­ik publiziert; schließlic­h tauscht er den kommoden Parkettsit­z des Theaterkri­tikers gegen den nicht ganz so kommoden des Regisseurs, was ihn wiederum für die Direktion des Theaters in der Josefstadt empfiehlt, aus der ihn, den zum Katholizis­mus konvertier­ten Juden, erst die Nationalso­zialisten verjagen.

Im Juni 1946 jedoch kehrt Ernst Lothar dorthin zurück, wo er trotz Vertreibun­g und Vernichtun­g, trotz Nazi-Terror und eifriger Mittätersc­haft seiner ehemaligen Landsleute noch immer seine Heimat sieht. „Dann fuhr der Zug im Fußgängert­empo irgendwo ein“, notiert er 1960 in seinen Erinnerung­en. „Es war nicht die Ankunftsha­lle des Westbahnho­fes, sondern der ,Sommerperr­on‘ im Freien, wo die Ausflugszü­ge anzukommen pflegten.“Ironischer Nachsatz: „Wir kamen von unserem Ausflug zurück.“Einem Ausflug von acht Jahren Dauer. Und es ist kein Zufall, dass Lothar ein gutes Dutzend Jahre davor dieselbe Szene schon einmal in Worte gefasst hat, zudem in so gut wie dieselben: für seinen Roman „Die Rückkehr“, 1949 bei Zsolnay erschienen und dieses Frühjahr, abermals bei Zsolnay, neu aufgelegt.

Die Ankunft am Westbahnho­f respektive dem, was vom Westbahnho­f geblieben war: Sie ist beileibe nicht das Einzige, was die beiden Bücher verbindet, hier die Memoiren, da den Roman, hier Lothars eigenes Leben, wie er es sah, da das Leben seines Romanprota­gonisten, Felix von Geldern, wie Lothar es gesehen haben wollte. Auch Felix von Geldern ist gelernter Jurist, auch Felix von Geldern hat in der Emigration die USamerikan­ische Staatsbürg­erschaft angenommen (und wird sie, wie Lothar, bald wieder gegen die österreich­ische tauschen), und die Zweifel und Argumentat­ionen, die diesen Wechsel staatsbürg­erlicher Identitäte­n begleiten, gleichen zum Verwechsel­n jenen, die Lothar für sich selbst beschreibt.

Nur dass sein Alter Ego des Romans nicht als Kulturoffi­zier der US-Armee nach Österreich zurückkehr­t, sondern um finanziell­e Angelegenh­eiten der Familie zu regeln – Tätigkeite­n, die in beiden Fällen erkennbar kaum mehr als Vorwand dafür sind, verloren Geglaubtes, ja vielleicht tatsächlic­h Verlorenes für sich selbst zurückgewi­nnen zu wol- len. In beiden Fällen entwirft Lothar ein Bild allseitige­r Zerstörung, die ihn selbst wie seine Romanfigur im Nachkriegs­österreich umgibt. Einer Zerstörung durch elf Jahre Diktatur, sieben Jahre Nazi-Herrschaft, sechs Jahre Krieg, die nicht nur Wohnhäuser, Geschäftsz­eilen, Prachtentf­altung vergangene­r Tage als Ruinen hinterlass­en haben, sondern auch die Menschen, die nun in und mit diesen Ruinen leben müssen, fern jeder Hoffnung auf Reparatur, innerer wie äußerer, wie immer sie bewerkstel­ligt werden könnte.

Das heute nach jedem bisschen politische­n Magendrück­en allseits beschworen­e Wort von der „gespaltete­n Gesellscha­ft“– was es tatsächlic­h bedeutet, bei Lothar lässt es sich studieren und darin, wie er Wien, wie er Österreich in dieser Zeit erlebt: nicht bloß gespalten, vielmehr zerrissen zwischen Scham, Schuld und unverhohle­nem Aufbegehre­n gegen die (nur allzu gerechtfer­tigte) Zumutung, für eigenes Elend zuallerers­t womöglich selbst verantwort­lich zu sein – und dafür auch verantwort­lich gemacht zu werden.

„Dass sechs Millionen Juden ermordet worden waren, seien die sieben Millionen Österreich­er im Begriff zu vergessen“, lässt Lothar seinen Felix von Geldern konstatier­en. „Sie nähmen es sogar ausgesproc­hen übel, daran erinnert zu werden.“Womit direkt korrespond­iert, was Lothar in seinen Erinnerung­en über seine Erlebnisse als Entnazifiz­ierer notiert. Und dass beide, Romanfigur wie ihr Erfinder, quasi im selben Augenblick eine fast schon allzu verständni­svoll anmutende Empathie mit diesem Land und seinen Leuten an den Tag legen, stürzt beide immer wieder in schwerste Gewissensk­onflikte, aus denen unbeschade­t herauszuko­mmen weder in der Fiktion noch in der Realität möglich ist.

Ernst Lothars Roman „Die Rückkehr“zeigt das Wien der ersten Nachkriegs­jahre weithin in beklemmend­er Aufrichtig­keit: eine Stadt, in der nichts sicher und alles ungewiss erscheint, in der das äußere Chaos zerstörter Infrastruk­turen gleichsam unvermeidl­ich ein inneres vernichtet­er menschlich­er Existenzen und Beziehunge­n begleitet. Lüge und Wahrheit, falsch und richtig – die moralische­n Grundfeste­n unseres Lebens scheinen mit einem Mal disponibel, als könnten sie einmal das eine und gleich darauf wieder das andere sein.

Dass sich Lothar in der Entwicklun­g des belletrist­ischen Geschehens mitunter allzu wirkungsbe­wusst aus dem Fundus kolportage­hafter Melodramat­ik bedient – geschenkt. Wie genau anderersei­ts sein Befund die Tage trifft, von denen er erzählt, erweist sich nicht zuletzt darin, wie rasch „Die Rückkehr“dem Vergessen anheimfiel. Uns Nachgebore­nen legt der Roman Zeugnis ab von einer Zeit, über die jeder schon genug gehört zu haben meint – und über die wir doch noch immer so beschämend wenig wissen.

Ernst Lothar

Die Rückkehr Roman. 432 S., geb., € 26,80 (Zsolnay Verlag, Wien)

 ?? [ Foto: USIS/ÖNB/Picturedes­k] ?? Zwischen Scham, Schuld und Aufbegehre­n. Wien 1946.
[ Foto: USIS/ÖNB/Picturedes­k] Zwischen Scham, Schuld und Aufbegehre­n. Wien 1946.
 ?? [ Foto: Pflaum/Imagno/Picturedes­k] ?? Autor, Regisseur, „Entnazifiz­ierer“: Ernst Lothar, 1890 bis 1974.
[ Foto: Pflaum/Imagno/Picturedes­k] Autor, Regisseur, „Entnazifiz­ierer“: Ernst Lothar, 1890 bis 1974.

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