Kontakt, Konf likt, Konsens
Vor einigen Jahren erfuhr Jakob Augstein, dass nicht der langjährige „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein sein Vater ist, sondern Martin Walser. Den Fragen des „späten Sohnes“, auch unangenehmen, stellt sich der Vater. Ein Gespräch über Privates und Öffe
Gleich auf der ersten Seite begegnet der Leser einer vertrauten Eigenschaft Martin Walsers: seiner Verletzlichkeit, seiner Angst davor, (absichtlich) missverstanden ungerechtfertigten Angriffen ausgesetzt zu werden. Dahinter steckt eine Obsession, die sich leitmotivisch durch das ganze Buch zieht: die Sorge, dass jemand Macht über ihn, Martin Walser, haben könnte. In der Macht, in ihrer Ausübung sieht er den Ursprung allen Übels.
Dem er das in einem 350 Seiten füllenden Gespräch gesteht, ist sein Sohn. Dass der berühmte Schriftsteller dessen Vater ist und nicht der nicht minder berühmte Journalist und „Spiegel“-Herausgeber, dessen Namen er trägt, hat er bekanntlich erst vor einigen Jahren erfahren.
Ob man an der Form des Gesprächs, am fixierten gesprochenen Wort Gefallen findet, dürfte an der Voreinstellung des Lesers liegen. Immerhin ist Walser ja bei seinen Fans nicht zuletzt wegen des geschliffenen Stils, wegen der elaborierten Formulierungen beliebt. Diese kann er zwar im Gespräch aus seinem sprachlichen Repertoire abrufen, aber an ihnen arbeiten, sie kneten und gestalten kann er unter dem Druck der Situation nicht. Martin Walser ist als Romanautor bekannt. Dabei hat er auch zahlreiche Dramen geschrieben. Wer seine beiden viel zu wenig beachteten Büchlein „Meßmers Gedanken“und „Meßmers Reisen“kennt, entdeckt in Walser einen herausragenden Aphoristiker. Auch in dem Gespräch mit Jakob Augstein finden sich Sätze, die als Aphorismen Bestand hätten.
Was Schriftsteller von Literatur halten
Die Einrichtung der Poetikvorlesung hat sich in den vergangenen Jahren verbreitet wie eine Seuche. Kaum eine Universität, die sich nicht ihren „Poet in Residence“leistet, auch wenn sie ihn nicht unbedingt so nennt. Der Einfallsreichtum bei öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie bei der Einrichtung neuer Lehrstühle ist begrenzt. Sie werden weniger aus tatsächlichem Interesse als aus Moden, dem sogenannten Zeitgeist, geboren. Tatsache aber ist, dass Studenten und Studentinnen authentisch erfahren wollen, wie Schriftsteller und Schriftstellerinnen arbeiten, welche Erwägungen ihrem Schreiben zugrunde liegen, was sie darüber hinaus von Literatur halten.
Solche Werkstattberichte aus der Praxis sind in der Regel unterhaltsamer als die Theorienbildung, die früher einmal als das Rückgrat der wissenschaftlichen Tätigkeit gegolten hat. Im besten Fall liefern sie verallgemeinerbare Einsichten, im schlechtes- ten Fall sind sie die akademisch aufpolierte Variante der Personality-Story, die, ebenfalls seuchenartig, die Massenmedien befallen hat. Nicht um die Poetik eines Autors oder einer Autorin geht es dann, sondern um Indiskretion. Auch dieses Wort kommt auf der ersten Seite des Buchs von Walser und Augstein vor.
Augstein fragt seinen Vater nach seiner Herkunft, nach seinen Kindheitserinnerungen, nach sehr Privatem, und Martin Walser antwortet artig, nur selten widerwillig, zitiert sich gelegentlich selbst, scheint aber nicht darauf bedacht zu sein, einen guten Eindruck zu machen. Wenn auf jene Personen, allen voran Marcel Reich-Ranicki, die Rede kommt, von denen er sich verletzt gefühlt hat, hält er sich allerdings nicht zurück. Da lässt er seiner Wut freien Lauf – und man kann ihn mit etwas Einfühlungsvermögen verstehen. Sogar in der Verbohrtheit, mit der er sich immer wieder über den Titel einer einzigen Rezension des Großkritikers ereifert.
Breiten Raum nimmt erwartungsgemäß jene Frage ein, die die Generation Augstein der Generation Walser über Jahre hinweg gestellt hat und auf die sie niemals befriedigende Antworten erhalten hat: Warum wurde Walsers Mutter, warum wurde er selbst als Jugendlicher Mitglied der NSDAP?
Auch weniger bekannte Aspekte aus Walsers Biografie werden angesprochen: sein Verhältnis zum Geld und zu Frauen, seine vorübergehende Neigung zur Spielsucht, die Bedeutung von Religion. Ein Abschnitt beschäftigt sich mit Freundschaft, namentlich jener mit Siegfried Unseld und mit Uwe Johnson, auch mit der komplizierteren Beziehung zu Günter Grass. Seine schon mehrfach betonte Abneigung gegen das Rechthabenmüssen – in der Konsequenz also: gegen den Anspruch an einen politischen Schriftsteller – wird thematisiert.
Auf die Frage „Kennst du einen gesellschaftskritischen Roman, den du gut findest?“antwortet Walser kurz und bündig: „Nein.“Das klingt schon sehr nach Provokation. Kein Dickens? Kein Balzac? Keine „Ehen in Philippsburg“? Oder sind das alles, wie „Berlin Alexanderplatz“, „Manhattan Transfer“und „Der Dschungel“, für Walser keine gesellschaftskritischen Romane? Er ergänzt dann zwar, dass diese Romane mit der Gesellschaft kritisch umgehen, da sie aber kein „eindeutiges politisches Bekenntnis“abgäben, seien sie keine gesellschaftskritischen Romane. Da verheddert sich Walser ein wenig, und Augstein lässt es ihm durchgehen.
Debatte über die „Auschwitzkeule“
Martin Walser war ja stets ein Nonkonformist, auch wenn er sich den Anschein gibt, als wolle er Konflikte vermeiden. Er sympathisierte mit der DKP, als das Mut erforderte; er plädierte für ein wiedervereinigtes Deutschland, als das aus der Mode war. Man kann verstehen, dass ihn der verordnete Konsens einer Bezugsgruppe, also auch der Linken, zum Widerspruch reizt. Und man muss sich fragen, ob es nicht die mangelnde Gesprächsbereitschaft der Linken war, die Walser immer weiter nach rechts gedrängt hat.
Erst gegen Ende des Buchs kommt Jakob Augstein auf jenes Thema, zu dem sich wohl die meisten Leser Aufklärung erhoffen: auf Auschwitz und die Paulskirchenrede, die Walser den Verlust zahlreicher früherer Freunde eingebracht hat. Hat er sie wirklich so gemeint, wie sie von vielen verstanden wurde? Dass er den Sozialismus, den er einmal propagiert hat, nicht mehr wünsche, dass ihm die deutsche Einheit früher als anderen eine Herzenssache war, führt er an anderer Stelle aus. Aber wollte er die viel zitierte „Auschwitzkeule“, die „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“tatsächlich zur Argumentationshilfe für Neonazis machen?
Walser erwidert auf Augsteins diesbezügliche Frage, dass er „dieselben Worte nicht mehr gebrauchen würde“. Gleichzeitig beharrt er aber darauf, dass seine „Rede über das Gewissen“missverstanden wurde. In diesem Kapitel stellt Augstein nicht bloß Fragen, sondern lässt sich auf eine Debatte mit seinem Vater ein, in der er sich ebenso viel Redezeit zugesteht wie diesem.
Es wird deutlich, wie sehr Walser unter den Vorwürfen, zumal von einem geliebten Menschen, leidet und doch immer wieder zu jener Selbstrechtfertigung zurückkehrt, zu der gezwungen zu werden er so leidenschaftlich ablehnt. Dieses Kapitel ist deshalb so interessant, weil es über Martin Walser hinaus auf ein Dilemma weist, das weniger artikulierte Menschen verdrängen oder rationalisieren.