Mythos einer vergessenen Lebensart
Chile. Patagonien abseits der populären Hotspots: entlang der Carretera Austral, einer Schotterstraße durchs Nirgendwo. 4000 Jahre alte Bäume gibt es da. Spektakuläre Flusslandschaften. Und im Glas Gletschereis.
Im Süden Chiles entleeren sich die Wolken, bevor sie über die Anden aufsteigen und nach Argentinien weiterziehen können. Dadurch gibt es im chilenischen Teil Patagoniens dichte Urwälder und reißende Flüsse, die aufgrund ihrer Abgeschiedenheit bis heute bestehen.
Meterhoch streckt sich der mächtige Baumriese in den Himmel. Allein die Rinde seines Stammes erzählt Geschichten. Rotbraun, weich und trotzdem robust, übersät mit Moos und kleinen Farnen. 50 bis 60 Meter kann ein Alerce-Baum (Fitzroya cupressoides) hoch und 3000 bis 4000 Jahre alt werden, sein Stamm einen Durchmesser von bis zu fünf Metern erreichen. Aufgrund des harten, dabei gleichzeitig leichten Holzes wurde der Großteil des Alerce-Bestands in Chile gefällt. Heute stehen diese Bäume unter Schutz.
Wo genau Patagonien beginnt und endet, ist nicht genau definiert. Ungefähr ab dem R´ıo B´ıo B´ıo südwärts. Patagonien beschreibt ein Lebensgefühl, einen Mythos über eine fast vergessene Lebensart. Das Leben in Patagonien ist rau. Nur der nördliche und südliche Teil – auf argentinischer wie auf chilenischer Seite – inklusive Feuerland waren vor der spanischen Eroberung durch Ureinwohner bewohnt. Dazwischen machten dichte Urwälder sowie das nord- und das südpatagonische Eisfeld die ständige Besiedelung durch Menschen unmöglich.
Um die Erschließung des Südens zu fördern, erlaubte die Regierung jedem, sich so viel Land anzueignen, wie er bewirtschaften konnte. Brandrodung war den Pionieren das einfachste Mittel, gegen die dicht bewachsenen Wälder vorzugehen. Die heutigen Bauern Patagoniens sind großteils Nachfahren dieser Pioniere. Manche müssen mehrere Tagesmärsche oder -ritte auf sich nehmen, um ins nächste Dorf zu gelangen. Die Wege sind nur selten gekennzeichnet. Je nach Niederschlag ähneln die zu überquerenden Flüsse sanften Bächen oder einem reißenden Strom. Ein Stock hilft, sich gegen die starke Strömung zu stellen, nasse Füße gehören dazu. Man gewöhnt sich daran – an den knietiefen Schlamm wohl oder übel auch. Handyempfang gibt es vielerorts keinen.
Almandina, Mitte 80, lebt mit ihrem Mann in einem kleinen Haus am Lago Vidal Gormaz – im Nirgendwo zwischen dem Kletterparadies Cochamo-´Tal und der Ortschaft R´ıo Puelo. Sie geht langsamen, aber festen Schrittes, immer leicht gebückt. Alle heiligen Zeiten passieren vom Regen durchnässte Wanderer das Grundstück. Ihnen bietet sie einen Platz im Ziegenstall und macht in der Mitte ein Feuer. Die alte Frau kniet auf einem Schaffell und schlichtet die Holzscheite über dem kleinen Ascheberg aufeinander. Almandina verbringt viel Zeit allein in ihrem Haus. Ihr Mann hilft in der entfernten Nachbarschaft mit, wenn er gebraucht wird: Zäune reparieren, Vieh zusammentreiben, Holz fällen. Almandinas Haus, Stall und Schuppen befinden sich inmitten sanfter Wiesen. Charakteristisch sind die grauen, verkohlten Baumstämme, die immer wieder kreuz und quer liegen und Zeugnis der Brandrodungen geben. Der karge Boden und das raue Klima machen Ackerbau so gut wie unmöglich. Viehzucht ist die Hauptbeschäftigung der patagonischen Bauern. Die Stämme wegzuschaffen war nie notwendig.
Wo Almandina wohnt, gibt es kaum Alerce-Bäume. Der nahe Hornopiren´ und der Alerce-Andino-Nationalpark sind für ihre Bestände bekannt und von der kleinen Industriestadt Puerto Montt sowie ihrer ansehnlicheren Nachbarstadt Puerto Varas am Llannquihue-See gut zu erreichen.
Es lohnt sich, mit einem Wanderführer aufzubrechen oder zumindest vorab nach dem genauen Standort der Bäume zu fragen. Wanderungen in Patagonien sollten nicht unterschätzt werden: Man ist in der Wildnis unterwegs. Doch selbst hier gibt es Ausnahmen: Im Pumal´ın-Park, der im Süden direkt an den Hornopiren-´Nationalpark grenzt, führen gut ausgeschnittene, gepflegte Wege vorbei an mächtigen Exemplaren.
Caleta Gonzalo heißt die Fähranlegestelle mit dem malerischen Restaurant und den kleinen Hütten (Caban˜as). Wer von Puerto Montt aus mit dem Auto weiter in den Süden fahren will, kommt hier vorbei.
Der Pumal´ın-Park mit seinem Alercebestand, den Wanderwegen, den gepflegten Campingplätzen und dem Restaurant neben den hübschen Caban˜as ist Teil des Vermächtnisses von Douglas Tompkins. Der US-Amerikaner war Gründer der Bekleidungsfirmen Esprit und North Face. Er verkaufte seine Firmenanteile und widmete sich fortan dem Erhalt der Natur, vorwiegend in Argentinien und Chile, wo der be-