Die Presse

Mythos einer vergessene­n Lebensart

Chile. Patagonien abseits der populären Hotspots: entlang der Carretera Austral, einer Schotterst­raße durchs Nirgendwo. 4000 Jahre alte Bäume gibt es da. Spektakulä­re Flusslands­chaften. Und im Glas Gletschere­is.

- VON MARGIT ATZLER

Im Süden Chiles entleeren sich die Wolken, bevor sie über die Anden aufsteigen und nach Argentinie­n weiterzieh­en können. Dadurch gibt es im chilenisch­en Teil Patagonien­s dichte Urwälder und reißende Flüsse, die aufgrund ihrer Abgeschied­enheit bis heute bestehen.

Meterhoch streckt sich der mächtige Baumriese in den Himmel. Allein die Rinde seines Stammes erzählt Geschichte­n. Rotbraun, weich und trotzdem robust, übersät mit Moos und kleinen Farnen. 50 bis 60 Meter kann ein Alerce-Baum (Fitzroya cupressoid­es) hoch und 3000 bis 4000 Jahre alt werden, sein Stamm einen Durchmesse­r von bis zu fünf Metern erreichen. Aufgrund des harten, dabei gleichzeit­ig leichten Holzes wurde der Großteil des Alerce-Bestands in Chile gefällt. Heute stehen diese Bäume unter Schutz.

Wo genau Patagonien beginnt und endet, ist nicht genau definiert. Ungefähr ab dem R´ıo B´ıo B´ıo südwärts. Patagonien beschreibt ein Lebensgefü­hl, einen Mythos über eine fast vergessene Lebensart. Das Leben in Patagonien ist rau. Nur der nördliche und südliche Teil – auf argentinis­cher wie auf chilenisch­er Seite – inklusive Feuerland waren vor der spanischen Eroberung durch Ureinwohne­r bewohnt. Dazwischen machten dichte Urwälder sowie das nord- und das südpatagon­ische Eisfeld die ständige Besiedelun­g durch Menschen unmöglich.

Um die Erschließu­ng des Südens zu fördern, erlaubte die Regierung jedem, sich so viel Land anzueignen, wie er bewirtscha­ften konnte. Brandrodun­g war den Pionieren das einfachste Mittel, gegen die dicht bewachsene­n Wälder vorzugehen. Die heutigen Bauern Patagonien­s sind großteils Nachfahren dieser Pioniere. Manche müssen mehrere Tagesmärsc­he oder -ritte auf sich nehmen, um ins nächste Dorf zu gelangen. Die Wege sind nur selten gekennzeic­hnet. Je nach Niederschl­ag ähneln die zu überqueren­den Flüsse sanften Bächen oder einem reißenden Strom. Ein Stock hilft, sich gegen die starke Strömung zu stellen, nasse Füße gehören dazu. Man gewöhnt sich daran – an den knietiefen Schlamm wohl oder übel auch. Handyempfa­ng gibt es vielerorts keinen.

Almandina, Mitte 80, lebt mit ihrem Mann in einem kleinen Haus am Lago Vidal Gormaz – im Nirgendwo zwischen dem Kletterpar­adies Cochamo-´Tal und der Ortschaft R´ıo Puelo. Sie geht langsamen, aber festen Schrittes, immer leicht gebückt. Alle heiligen Zeiten passieren vom Regen durchnässt­e Wanderer das Grundstück. Ihnen bietet sie einen Platz im Ziegenstal­l und macht in der Mitte ein Feuer. Die alte Frau kniet auf einem Schaffell und schlichtet die Holzscheit­e über dem kleinen Ascheberg aufeinande­r. Almandina verbringt viel Zeit allein in ihrem Haus. Ihr Mann hilft in der entfernten Nachbarsch­aft mit, wenn er gebraucht wird: Zäune reparieren, Vieh zusammentr­eiben, Holz fällen. Almandinas Haus, Stall und Schuppen befinden sich inmitten sanfter Wiesen. Charakteri­stisch sind die grauen, verkohlten Baumstämme, die immer wieder kreuz und quer liegen und Zeugnis der Brandrodun­gen geben. Der karge Boden und das raue Klima machen Ackerbau so gut wie unmöglich. Viehzucht ist die Hauptbesch­äftigung der patagonisc­hen Bauern. Die Stämme wegzuschaf­fen war nie notwendig.

Wo Almandina wohnt, gibt es kaum Alerce-Bäume. Der nahe Hornopiren´ und der Alerce-Andino-Nationalpa­rk sind für ihre Bestände bekannt und von der kleinen Industries­tadt Puerto Montt sowie ihrer ansehnlich­eren Nachbarsta­dt Puerto Varas am Llannquihu­e-See gut zu erreichen.

Es lohnt sich, mit einem Wanderführ­er aufzubrech­en oder zumindest vorab nach dem genauen Standort der Bäume zu fragen. Wanderunge­n in Patagonien sollten nicht unterschät­zt werden: Man ist in der Wildnis unterwegs. Doch selbst hier gibt es Ausnahmen: Im Pumal´ın-Park, der im Süden direkt an den Hornopiren-´Nationalpa­rk grenzt, führen gut ausgeschni­ttene, gepflegte Wege vorbei an mächtigen Exemplaren.

Caleta Gonzalo heißt die Fähranlege­stelle mit dem malerische­n Restaurant und den kleinen Hütten (Caban˜as). Wer von Puerto Montt aus mit dem Auto weiter in den Süden fahren will, kommt hier vorbei.

Der Pumal´ın-Park mit seinem Alercebest­and, den Wanderwege­n, den gepflegten Campingplä­tzen und dem Restaurant neben den hübschen Caban˜as ist Teil des Vermächtni­sses von Douglas Tompkins. Der US-Amerikaner war Gründer der Bekleidung­sfirmen Esprit und North Face. Er verkaufte seine Firmenante­ile und widmete sich fortan dem Erhalt der Natur, vorwiegend in Argentinie­n und Chile, wo der be-

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