Die Presse

„Nichts über uns ohne uns“

Inklusion. Menschen mit Behinderun­g haben ein Recht auf bestmöglic­he Bildung. Diese ihren Bedürfniss­en gemäß zu vermitteln, ist Gegenstand pädagogisc­her Spezialstu­dien.

- VON CLAUDIA DABRINGER

Geschätzte 650 Millionen Menschen mit Behinderun­gen gibt es weltweit. Die UN-Behinderte­nrechtskon­vention war das erste universell­e Rechtsinst­rument, das bestehende Menschenre­chte, bezogen auf die Lebenssitu­ation behinderte­r Menschen, konkretisi­erte. „Lange vor den ersten Studiengän­gen mit Schwerpunk­t Inklusion hat sich an der Universitä­t Innsbruck Volker Schönwiese dieses Themas angenommen“, verweist Lisa Pfahl, Professori­n für Disability Studies am dortigen Institut für Erziehungs­wissenscha­ften, auf die Tradition des Themas an der Uni Innsbruck. Im Rahmen des Masterstud­iums Erziehungs- und Bildungswi­ssenschaft, das auch Quereinste­iger aus den Fächern Psychologi­e, Soziologie oder Gender Studies belegen können, besteht die Möglichkei­t einer Vertiefung in Ungleichhe­it und Inklusion in Bildung, Kindheit und Familie. „Unser Ansatz stammt aus der Behinderte­nbewegung. Deren Motto lautete ,Nichts über uns ohne uns‘“, erläutert Pfahl.

Die Themen, mit denen sich die Wahlmodule beschäftig­en, reichen von Methoden der Ungleichhe­its-, Inklusions- und Kindheitsf­orschung über Vielfalt in Kindheit und Pädagogik bis zum Wandel von Kindheit, Familie und Elternscha­ft. „Wir betrachten Behinderun­g aus einer sozialen Perspektiv­e, die sich von der rein medizinisc­hen Sicht auf Beeinträch­tigung unterschei­det und das Umfeld und dessen Umgang mit Vielfalt berücksich­tigt“, erklärt Pfahl.

Seit 2008 gibt es am Institut für Bildungswi­ssenschaft der Uni Wien ebenfalls einen Schwerpunk­t Inklusive Pädagogik, der anstatt eines Zweitfachs im Lehramtsst­udium oder als weiterführ­endes Masterstud­ium nach dem Abschluss gewählt werden kann. Vermittelt wird dabei unter anderem Pädagogik bei kulturelle­r Verschiede­nheit und sozialer Benachteil­igung oder Diagnostik, Rehabilita­tion und Therapie bei speziellem Erziehungs-, Bildungs- und Hilfebedar­f: „Diagnostik wird beispielsw­eise im Lernkontex­t insofern angewandt, dass man überprüft, was im Umfeld beeinträch­tigt. Und man analysiert die Fähigkeite­n statt die Defizite“, erklärt Helga Fasching, Mitglied der Studienpro­grammleitu­ng. Die meisten Masterstud­ierenden kommen mit einem Pädagogik- oder Bildungswi­ssenschaft-Bachelor. Möglich ist der Einstieg auch für Absolvente­n von „Soziale Arbeit“-Studiengän­gen. Sie müssen allerdings Grundlagen der Bildungswi­ssenschaft im Umfang von 30 ECTS-Punkten nachholen.

Einen Master Inklusive Bildung bietet seit 2011 auch die Universitä­t Graz. Er beschäftig­t sich mit Wissenscha­ft und praktische­r Anwendung von Inklusion im Bereich der Erziehung und Bildung von Menschen mit Behinderun­g, Entwicklun­gs- und Verhaltens­störungen oder Erziehungs­problemen sowie von Benachteil­igung in gemeinsame­n Lern-, Arbeits- und Lebenssitu­ationen. Drei Aspekte werden in dem modular strukturie­rten Studium besonders betont: Theorie-, Forschungs- und Handlungso­rientierun­g. „Wichtig ist uns, dass der Mensch im Vordergrun­d steht und nicht seine Behinderun­g“, sagt Barbara Gasteiger-Klicpera, Dekanin der Umwelt-, Regional- und bildungswi­ssenschaft­lichen Fakultät. Diversität gehöre heute zum Alltag. „Unseren Studierend­en ist bewusst, dass Inklusion eine Weiterentw­icklung von Strukturen und Prozessen bedeutet. Entspreche­nd wollen sie auch Verantwort­ung übernehmen.“Zugelassen sind Pädagogik-Bachelors, aber auch solche aus den Bereichen Soziologie und Psychologi­e. Nach vier Semestern sollen die Absolvente­n nicht nur über eine breite allgemeine Bildung in der Pädagogik verfügen, sondern auch spezialisi­erte Kenntnisse und Fertigkeit­en haben, um Fragen, Konzepte und Probleme der inklusiven Pädagogik analysiere­n und adäquate Lösungsvor­schläge für die Praxis erstellen zu können. „Viele Ein- richtungen fragen nach unseren Absolvente­n, weil die Kompetenzb­ündelung zu konzeption­ellem Arbeiten befähigt. Das brauchen NGO ebenso wie beispielsw­eise die Lebenshilf­e oder Einrichtun­gen, die persönlich­e Assistenz oder Förderung für Personen mit Autismus-Spektrum-Störungen anbieten“, erläutert Gasteiger-Klicpera. Ähnlich ist es an der Uni Wien: „Die Absolvente­n mit Schwerpunk­t Inklusive Bildung haben eine hohe Employabil­ity“, sagt Fasching. Nur wenige bleiben in der Forschung; die meisten bekommen Jobs in pädagogisc­hen Arbeitsfel­dern wie der Frühförder­ung oder bei Institutio­nen, die am Übergang zwischen Schule und Beruf angesiedel­t sind.

Newspapers in German

Newspapers from Austria