Die Menschheit sitzt ums Eck
Wien, Hauptbahnhof: halbstündige Beobachtung von Vielfalt und Falten der Wartenden.
Reisen ist schön. Aber manchmal kann es auch ganz schön anstrengend sein. Und wenn man dann noch eine halbe Stunde warten muss, bis der Zug abfährt, den man sich vorgenommen hat, und man knapp nach dem Frühstück nicht schon wieder ins Cafe´ will, dann ist es, falls einen der Fahrplan an den Wiener Hauptbahnhof gebracht hat, keine schlechte Idee, eine der bequemen Ruhezonen aufzusuchen, die dort mit Sesselreihen eingerichtet sind und einem einen Vorgeschmack auf die Vielfalt der Welt geben.
Also nahm auch ich dort Platz, wie es etwas besitzergreifend so heißt, ich setzte mich in eine der Reihen, holte Luft und schaute um mich.
Auch der Mensch ist Vielfalt, und eine dieser Falten bin ich, die aber lassen wir jetzt beiseite. Mir gegenüber saß, wie ich jetzt erst wahrnahm, der Klassiker, wenn ich das einmal so sagen darf, ohne jemanden zu verletzen, der schon verletzt ist: Es war der sogenannte Sandler, der, warum auch immer, nichts zur steuerlichen Finanzierung dieser kein Geld bringenden Einrichtung beigetragen hat und zugleich derjenige ist, dessen Anwesenheit einen am wenigsten überrascht: Er sitzt nicht im Cafe,´ weil er sich das nicht leisten kann und aufgrund der Blicke der anderen dort auch gar nicht sitzen möchte. Er saß mir direkt gegenüber, schaute mich aber nachdrücklich nicht an, sondern ich schaute ihn an und verfolgte, wie er überall auf seinem Leib Stellen suchte, die gekratzt werden wollten, und er fand sie, und das mit einem Blick vor sich hin, der gern die Verachtung zurückgeben wollte, die er etwas vorschnell bei seinem unangesehenen Gegenüber (mir) vermutete.
Zwei, die nicht aufs Handy schauen
Hinter ihm saß einer, aß einer eine Semmel mit irgendwas drin und suchte jetzt nach einer Möglichkeit, die Papierverpackung loszuwerden, ohne aufstehen zu müssen: Richtig, er schielte kurz nach links und rechts und ließ das Papier dann sanft unter seine Sitzgelegenheit gleiten.
Auf der anderen Seite eine Gruppe von sechs oder sieben Jugendlichen aus Kroatien (o. Ä.), Mädchen und Burschen gemischt, alle auffällig angezogen und mit entsprechendem Rucksackgepäck, sie werfen eine große Affenpuppe herum, fummeln dann wieder am Handy, zeigen sich das ihre gegenseitig, lachen lauthals, gähnen und schleichen gemeinsam davon. Zwei (Pardon!) unattraktive Frauen sitzen nebeneinander, die eine streichelt wirklich liebevoll die etwas Ältere, bietet ihr die Cola-Flasche an, wird abgelehnt. Jetzt schaut sie vor sich hin mit einer Miene, die ebenso beleidigt wie traurig aussieht. Etwas weiter zwei Jüngere, die Füllige mit Minirock und Einblick in ihr Dekollete,´ sie haben sich zwei Jünglingen gegenübergesetzt, die nicht sprechen und auf kein Handy schauen, auch nicht auf die Mädchen.
Eine alte Dame mit schwarzem Hut (außer dem Sandler und der jungen Truppe sind alle in Dunkel bis Schwarz gekleidet!) nimmt in der Mitte von drei leeren Plätzen Platz, greift zu den Lehnen, richtet sich abstützend auf, sinkt in sich zurück und schaut sich dann so um, dass man sieht, dass sie sich umsieht. Ein junger Mann im Anzug mit Rollkoffer kommt, ohne langsamer zu gehen, schaut dabei die Reihen ab, geht weiter, geht vorüber, geht weg.
Dann noch die junge Frau, die aussieht, als käme sie gerade aus dem Büro, sie schiebt ihren Kinderwagen, in den sie immer wieder hineinlächelt, sie trägt einen hellen (!) Trenchcoat und einen Rucksack. Ah ja, und dann sitzt da noch ein Alter mit Notizbuch, der wenig Sympathie ausstrahlt.
Die Menschheit. Man muss nicht groß verreisen, um ihr zu begegnen. Sie sitzt ums Eck.