Die Presse

Die Menschheit sitzt ums Eck

Wien, Hauptbahnh­of: halbstündi­ge Beobachtun­g von Vielfalt und Falten der Wartenden.

- Von Jochen Jung

Reisen ist schön. Aber manchmal kann es auch ganz schön anstrengen­d sein. Und wenn man dann noch eine halbe Stunde warten muss, bis der Zug abfährt, den man sich vorgenomme­n hat, und man knapp nach dem Frühstück nicht schon wieder ins Cafe´ will, dann ist es, falls einen der Fahrplan an den Wiener Hauptbahnh­of gebracht hat, keine schlechte Idee, eine der bequemen Ruhezonen aufzusuche­n, die dort mit Sesselreih­en eingericht­et sind und einem einen Vorgeschma­ck auf die Vielfalt der Welt geben.

Also nahm auch ich dort Platz, wie es etwas besitzergr­eifend so heißt, ich setzte mich in eine der Reihen, holte Luft und schaute um mich.

Auch der Mensch ist Vielfalt, und eine dieser Falten bin ich, die aber lassen wir jetzt beiseite. Mir gegenüber saß, wie ich jetzt erst wahrnahm, der Klassiker, wenn ich das einmal so sagen darf, ohne jemanden zu verletzen, der schon verletzt ist: Es war der sogenannte Sandler, der, warum auch immer, nichts zur steuerlich­en Finanzieru­ng dieser kein Geld bringenden Einrichtun­g beigetrage­n hat und zugleich derjenige ist, dessen Anwesenhei­t einen am wenigsten überrascht: Er sitzt nicht im Cafe,´ weil er sich das nicht leisten kann und aufgrund der Blicke der anderen dort auch gar nicht sitzen möchte. Er saß mir direkt gegenüber, schaute mich aber nachdrückl­ich nicht an, sondern ich schaute ihn an und verfolgte, wie er überall auf seinem Leib Stellen suchte, die gekratzt werden wollten, und er fand sie, und das mit einem Blick vor sich hin, der gern die Verachtung zurückgebe­n wollte, die er etwas vorschnell bei seinem unangesehe­nen Gegenüber (mir) vermutete.

Zwei, die nicht aufs Handy schauen

Hinter ihm saß einer, aß einer eine Semmel mit irgendwas drin und suchte jetzt nach einer Möglichkei­t, die Papierverp­ackung loszuwerde­n, ohne aufstehen zu müssen: Richtig, er schielte kurz nach links und rechts und ließ das Papier dann sanft unter seine Sitzgelege­nheit gleiten.

Auf der anderen Seite eine Gruppe von sechs oder sieben Jugendlich­en aus Kroatien (o. Ä.), Mädchen und Burschen gemischt, alle auffällig angezogen und mit entspreche­ndem Rucksackge­päck, sie werfen eine große Affenpuppe herum, fummeln dann wieder am Handy, zeigen sich das ihre gegenseiti­g, lachen lauthals, gähnen und schleichen gemeinsam davon. Zwei (Pardon!) unattrakti­ve Frauen sitzen nebeneinan­der, die eine streichelt wirklich liebevoll die etwas Ältere, bietet ihr die Cola-Flasche an, wird abgelehnt. Jetzt schaut sie vor sich hin mit einer Miene, die ebenso beleidigt wie traurig aussieht. Etwas weiter zwei Jüngere, die Füllige mit Minirock und Einblick in ihr Dekollete,´ sie haben sich zwei Jünglingen gegenüberg­esetzt, die nicht sprechen und auf kein Handy schauen, auch nicht auf die Mädchen.

Eine alte Dame mit schwarzem Hut (außer dem Sandler und der jungen Truppe sind alle in Dunkel bis Schwarz gekleidet!) nimmt in der Mitte von drei leeren Plätzen Platz, greift zu den Lehnen, richtet sich abstützend auf, sinkt in sich zurück und schaut sich dann so um, dass man sieht, dass sie sich umsieht. Ein junger Mann im Anzug mit Rollkoffer kommt, ohne langsamer zu gehen, schaut dabei die Reihen ab, geht weiter, geht vorüber, geht weg.

Dann noch die junge Frau, die aussieht, als käme sie gerade aus dem Büro, sie schiebt ihren Kinderwage­n, in den sie immer wieder hineinläch­elt, sie trägt einen hellen (!) Trenchcoat und einen Rucksack. Ah ja, und dann sitzt da noch ein Alter mit Notizbuch, der wenig Sympathie ausstrahlt.

Die Menschheit. Man muss nicht groß verreisen, um ihr zu begegnen. Sie sitzt ums Eck.

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