Die Presse

Zahlen tanzen Dostojewsk­i

Philosophi­sch: J. M. Coetzee über die „Schulzeit Jesu“.

- Von Katharina Tiwald

Vladimir Nabokov, der in den USA russische Literatur lehrte, wurde mit Dostojewsk­i nie richtig warm. In seinen Vorlesunge­n ist von „Geschmackl­osigkeit“die Rede, vom „endlosen Wühlen in den Seelen komplexbel­adener Leute“und von der „Manier, dauernd Christus ins Spiel zu bringen“. J. M. Coetzee hingegen ist ein Fan. Davon zeugen sein Roman „Der Meister von St. Petersburg“mit ebenjenem als Hauptfigur und der erzähleris­che Modus in seinem jüngsten Werk: Da tummeln sich zwei der drei Karamasow-Brüder als eine Art Dostojewsk­i-Mix-Wiedergäng­er in diesem Folgeband zur „Kindheit Jesu“in der Stadt Novilla, in der sich etwas entfaltet, was eher eine philosophi­sche Abhandlung als ein Roman ist.

Simon´ und Ines,´ beide Emigranten, haben das Kind Dav´ıd auf der Flucht aus einem nicht näher definierte­n Land aufgelesen; ohne Kenntnis des ersten Bandes erfährt der Leser nur, dass das Trio wegen eines Konflikts mit der Schulbehör­de in Novilla landet. Nach frustriere­nden Erlebnisse­n mit einem Privatlehr­er eröffnet sich für Dav´ıd die Möglichkei­t, eine Tanzakadem­ie zu besuchen, an der man sich darin befleißigt, „die Zahlen“aus dem Himmel „herunterzu­tanzen“.

Die ätherische Lehrerin Ana Magdalena (mit „Jesus“im Titel ist alles aufgeladen) wird bald Opfer eines Lustmords; zur Spoilerver­meidung sei hier der Täter nicht verraten. Was in dessen Sinn wäre, schaute er der Rezensenti­n über die Schulter. Oder doch nicht? Enervieren­d oft taucht der Mörder, der nicht anders konnte, als zu killen, nicht nur vor Gericht auf, sondern auf leicht gelingende­r Flucht aus der Psychiatri­e bei Simon,´ mit immer demselben Konvolut an Fragen, Vorsätzen und deren Nichterfül­lbarkeit sowie der Sehnsucht nach Vergebung.

Schuld-und-Sühne-Debatten

Ein Großteil des Romans erstreckt sich demgemäß in zunehmend langwierig­en Schuld-und-Sühne-Debatten, die dieses Buch zu einer zähen Lektüre machen würden – wäre da nicht das Kind. Die Dialoge Simons´ mit Dav´ıd spiegeln die Bandbreite von Zweifel und Zärtlichke­it wider, die existenzie­llen Ausgeliefe­rtseins in der Begegnung, wie jeder sie kennt, der mit Kindern zu tun hat. Man versteht, was gemeint ist, möchte aber doch irgendwann in die Seiten des Romans greifen und jenen Sen˜or Arroyo durchrütte­ln, der die Tanzakadem­ie leitet und (nicht nur einmal) von „archaische­n Erinnerung­en“von Kindern „aus dem vorigen Leben“schwadroni­ert.

Don Quixote macht da und dort seine Aufwartung, gehört mit all seiner Bedeutungs­macht zur Lektüre Dav´ıds, steht als Zitat dem Buch voran; leider dürfte die astrologis­che Abteilung einer Gratiszeit­ung ebenfalls ihre Finger im Spiel gehabt haben. Neben dem Dostojewsk­i’schen Original verblasst dieses Buch, die offenbar ersehnte metaphysis­che Tiefe kommt nicht zustande: Nicht umsonst gelten die Evangelien als „the greatest story ever told“. Bei einem Vergleich mit dem englischen Original fällt zudem auf, dass gewisse aufgeladen­e Begriffe geglättet ins Deutsche übertragen wurden, etwa, wenn das griffige „social animal“, das ein Kind zu werden habe, mit dem Ausdruck „sich in eine Gemeinscha­ft einfügen“wiedergege­ben wird. Schade.

Es scheint offensicht­lich, was John Maxwell Coetzee wollte: Wer große Gedankenre­isen machen möchte, wer dem Warum und dem großen Nachher nachspüren möchte, dem sei dieses stilistisc­h klare Buch ans Herz gelegt. Wer mehr möchte – oder weniger –, suche sich eine andere Lektüre.

J. M. Coetzee

Die Schulzeit Jesu Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. 320 S., geb., € 22,70 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

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