Zahlen tanzen Dostojewski
Philosophisch: J. M. Coetzee über die „Schulzeit Jesu“.
Vladimir Nabokov, der in den USA russische Literatur lehrte, wurde mit Dostojewski nie richtig warm. In seinen Vorlesungen ist von „Geschmacklosigkeit“die Rede, vom „endlosen Wühlen in den Seelen komplexbeladener Leute“und von der „Manier, dauernd Christus ins Spiel zu bringen“. J. M. Coetzee hingegen ist ein Fan. Davon zeugen sein Roman „Der Meister von St. Petersburg“mit ebenjenem als Hauptfigur und der erzählerische Modus in seinem jüngsten Werk: Da tummeln sich zwei der drei Karamasow-Brüder als eine Art Dostojewski-Mix-Wiedergänger in diesem Folgeband zur „Kindheit Jesu“in der Stadt Novilla, in der sich etwas entfaltet, was eher eine philosophische Abhandlung als ein Roman ist.
Simon´ und Ines,´ beide Emigranten, haben das Kind Dav´ıd auf der Flucht aus einem nicht näher definierten Land aufgelesen; ohne Kenntnis des ersten Bandes erfährt der Leser nur, dass das Trio wegen eines Konflikts mit der Schulbehörde in Novilla landet. Nach frustrierenden Erlebnissen mit einem Privatlehrer eröffnet sich für Dav´ıd die Möglichkeit, eine Tanzakademie zu besuchen, an der man sich darin befleißigt, „die Zahlen“aus dem Himmel „herunterzutanzen“.
Die ätherische Lehrerin Ana Magdalena (mit „Jesus“im Titel ist alles aufgeladen) wird bald Opfer eines Lustmords; zur Spoilervermeidung sei hier der Täter nicht verraten. Was in dessen Sinn wäre, schaute er der Rezensentin über die Schulter. Oder doch nicht? Enervierend oft taucht der Mörder, der nicht anders konnte, als zu killen, nicht nur vor Gericht auf, sondern auf leicht gelingender Flucht aus der Psychiatrie bei Simon,´ mit immer demselben Konvolut an Fragen, Vorsätzen und deren Nichterfüllbarkeit sowie der Sehnsucht nach Vergebung.
Schuld-und-Sühne-Debatten
Ein Großteil des Romans erstreckt sich demgemäß in zunehmend langwierigen Schuld-und-Sühne-Debatten, die dieses Buch zu einer zähen Lektüre machen würden – wäre da nicht das Kind. Die Dialoge Simons´ mit Dav´ıd spiegeln die Bandbreite von Zweifel und Zärtlichkeit wider, die existenziellen Ausgeliefertseins in der Begegnung, wie jeder sie kennt, der mit Kindern zu tun hat. Man versteht, was gemeint ist, möchte aber doch irgendwann in die Seiten des Romans greifen und jenen Sen˜or Arroyo durchrütteln, der die Tanzakademie leitet und (nicht nur einmal) von „archaischen Erinnerungen“von Kindern „aus dem vorigen Leben“schwadroniert.
Don Quixote macht da und dort seine Aufwartung, gehört mit all seiner Bedeutungsmacht zur Lektüre Dav´ıds, steht als Zitat dem Buch voran; leider dürfte die astrologische Abteilung einer Gratiszeitung ebenfalls ihre Finger im Spiel gehabt haben. Neben dem Dostojewski’schen Original verblasst dieses Buch, die offenbar ersehnte metaphysische Tiefe kommt nicht zustande: Nicht umsonst gelten die Evangelien als „the greatest story ever told“. Bei einem Vergleich mit dem englischen Original fällt zudem auf, dass gewisse aufgeladene Begriffe geglättet ins Deutsche übertragen wurden, etwa, wenn das griffige „social animal“, das ein Kind zu werden habe, mit dem Ausdruck „sich in eine Gemeinschaft einfügen“wiedergegeben wird. Schade.
Es scheint offensichtlich, was John Maxwell Coetzee wollte: Wer große Gedankenreisen machen möchte, wer dem Warum und dem großen Nachher nachspüren möchte, dem sei dieses stilistisch klare Buch ans Herz gelegt. Wer mehr möchte – oder weniger –, suche sich eine andere Lektüre.
J. M. Coetzee
Die Schulzeit Jesu Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. 320 S., geb., € 22,70 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)