Der Blick auf ein blutbeflecktes Wien
Wiener Moderne. Man kann die Habsburgermetropole um 1900 auch anders sehen. Nicht romantisch-nostalgisch verklärt wie bei Stefan Zweig, sondern so wie der Wiener Literat und Regisseur Berthold Viertel. Mit Blick auf das 20. Jahrhundert.
Man glaubt, das Wien um 1900 gut zu kennen, aus den nostalgisch verklärenden Erinnerungen von Stefan Zweig etwa und auch aus dem berühmten Werk von Carl Schorske über „Finde-si`ecle Vienna“. Die These des amerikanischen Historikers, dass sich die ästhetische Blüte durch das Versagen des österreichischen Liberalismus und der sich daraus ergebenden Transformation der Energien in die Salons, Kaffeehäuser und Literatenzirkel ergeben habe, machte Furore. Der Blick auf andere Seiten des Geisteslebens, auf ein oppositionelles Milieu und eine LebensstilAvantgarde, wurde dadurch verstellt. Die „kritische“oder „radikale“Moderne wurde dieser Gegenpol von Allan Janik und Steven Beller genannt.
Zu diesem schwer fassbaren progressiven Netzwerk von Intellektuellen gehörte der heute etwas in Vergessenheit geratene Berthold Viertel (1885–1953). Außer einer kurzen Gasse weit draußen in Favoriten und einem Ehrengrab erinnert in Wien wenig an den Literaten, Theater- und Filmregisseur. Viertel wurde in Wien geboren, arbeitete nach seiner Militärzeit im Ersten Weltkrieg an deutschen Theatern, emigrierte dann in die USA und versuchte – mit wenig Erfolg – in Hollywood Fuß zu fassen. Als Jude fand er nach 1933 in Deutschland keine Arbeitsmöglichkeit mehr und kehrte erst nach 1945 wieder nach Europa zurück, ohne sich hier wieder heimisch fühlen zu können: „Bald ist es so, dass, wohin ich auch immer ginge, ich in ein fremdes Land einwandern würde.“Er stieß in Berlin und Wien auf einen „neuen Menschentypus, der kaum noch die Sprache mit mir gemeinsam hat.“Er war entsetzt darüber, dass man hier genau dort fortsetze, wo man Ende der 20er-Jahre aufgehört habe, alles dazwischen würde weggeblendet.
Das Cafe´ Central: „Ein Abfallhaufen“
Viertel verachtete Nationalheiligtümer und Kulturmythen – und kam als Gastregisseur 1948 ans Wiener Burgtheater. Es war keine Heimkehr, darauf legte er Wert, sondern eine Rückkehr aus dem Exil. Das geliebte Cafe´ Central – nun ein „Abfallhaufen“, der alte Geist verschwunden. Die Menschen in der Stadt? „Schuldlos-schuldig sah mancher aus, von seinem Gewissen belastet für etwas, das getan zu haben oder gewesen zu sein er sich kaum erinnerte.“Ein besonderer Stein des Anstoßes wurde für Viertel der Film „Der Engel mit der Posaune“nach dem Ro- man von Ernst Lothar, der sich in das Nachkriegs-Wien wieder eingefügt habe „wie Gänseschmalz in eine aufgeschnittene Kaisersemmel“und Wien von den „Blut- und Verwesungsflecken“reinwaschen wolle. „Aber die Geschichte ist kein Daunenbett, das man sich über den Kopf ziehen kann, um weiterzuschlummern.“
In der Auseinandersetzung mit dem posttotalitären Österreich füllten sich Viertels Arbeitsbücher. Sein umfangreicher Nachlass ist heute im Marbacher Literaturarchiv. Von ihm stammt kein „bedeutendes“Werk. 50 Jahre schrieb er an seiner Autobiografie eines Gescheiterten, die er nie publizierte: „Zwei Weltkriege unterbrachen mich.“Viertel fand kaum Publikationsmöglichkeiten, wie anderen Kulturschaffenden gelang ihm in der Nachkriegszeit keine Reintegration. Unter „Heimkehrern“verstanden die Wiener nur die Kriegsgefangenen.
Seine Wien-um-1900-Darstellung, die er rückblickend in diesen Heften niedergeschrieben hat, braucht den Vergleich mit denen seiner Freunde Hermann Broch und Stefan Zweig nicht zu scheuen. Die Wiener Historikerin Katharina Prager hat den Nachlass durchforstet und mit ihrem soeben er- schienenen Buch über Viertel eine fulminante, entromantisierte „Biografie der Wiener Moderne“veröffentlicht, die Pflichtlektüre für jeden ist, der sich für das intellektuelle Leben im Wien um und nach der Jahrhundertwende interessiert.
Auch der Germanist Wendelin SchmidtDengler sah in Viertel bereits einen Revisionisten der Wiener-Moderne-Klischees: „Der Beobachter Viertel entzaubert – hier bleibt nicht mehr viel übrig vom heiteren Penälertum, vom Leben in der großbürgerlichen Familie, vom Schmelz der süßen Mädel.“
Hitler, Sohn der Liberalen
Sein Generationenbild formulierte Viertel einmal so: „Im Allgemeinen sind die Väter diejenigen, die zu erhalten versuchen, die Söhne sind Revolutionierende und Nihilisten. Aber die Skepsis geht schon von den Vätern aus. Auch die Väter fühlen sich auf einem verlorenen Posten.“Der österreichische Liberalismus, 1897 endgültig abgewählt, lebte für ihn in neuen Formen und Gesichtern weiter, auch bei den Christlichsozialen und Sozialdemokraten. Sie gehörten also zu den Vätern, die neuen rassistischen radikalen Nationalisten wie Schöne- rer und Hitler zu den Söhnen. Während Stefan Zweig noch Karl Luegers „Noblesse“und „Anstand“würdigte, die mit der „Vulgarisierung“und „Brutalisierung“der Nationalsozialisten nicht vergleichbar sei, sah Viertel Lueger als Lehrmeister Hitlers: „Um es wieder zu sagen, weil es immer noch zu wenig bekannt ist: Hitler ist nicht zufällig ein Österreicher.“
Die Lektüre ist eine ständige kritische Überprüfung der Wurzeln der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung, die dann zu den Konflikten und Katastrophen im 20. Jahrhundert führte. Der Satz in Karl Kraus’„Dritter Walpurgisnacht“: „Wie kam’s? Wie konnte das geschehen?“, er trieb auch diesen Autor an, der Kraus als seinen intellektuellen Ziehvater betrachtete.
Als Staatenloser wurde er Weltbürger
Prager schreibt über Viertels „kulturelle Mehrfachzugehörigkeit und Parteilosigkeit“, Viertel selbst: „Schau mal, ich bin Österreicher, dazu Jude; als Schriftsteller und Theatermensch Angehöriger der deutschen Kultur, (. . .) dann wanderte ich nach Amerika aus (. . .). Als Hitler Österreich seinem Zwangsstaat einverleibte, befand ich mich in London und tauschte meinen österreichischen Pass gegen ein weißes Papier um, das mich staatenlos und zum Weltbürger machte.“Auch die Denker, mit denen er sich um 1900 in Wien vernetzte, behaupteten sich nie als Partei, Gruppe oder Richtung. Peter Altenberg gehörte dazu, der sein „Scheitern“als „Selbstpraxis und antikonformistische Lebensform“(Jacques Le Rider) lebte, und Karl Kraus, der von sich sagte: „Ich bin größenwahnsinnig: ich weiß, dass meine Zeit nicht kommen wird.“
13 Inszenierungen wurden Viertel im Burgtheater übertragen, es gelang ihm mit den Schauspielern Käthe Gold, Josef Meinrad, Curd Jürgens und anderen einen Stilwandel durchzusetzen, gegen den „Reichskanzleistil“, wie er verächtlich formulierte. Doch im Kalten Krieg war es angebracht, sich klar im antikommunistischen Lager zu verorten. Hans Weigel und Friedrich Torberg machten es vor, Viertel folgte ihnen nicht. So wurde er als „heimatloser Linker“gebrandmarkt. Viertel starb 68-jährig in Wien. Katharina Prager hat ihn in ihrer grandiosen Studie als wesentlichen Teil der Wiener Kulturszene wieder sichtbar gemacht.