Die Presse

Der Blick auf ein blutbeflec­ktes Wien

Wiener Moderne. Man kann die Habsburger­metropole um 1900 auch anders sehen. Nicht romantisch-nostalgisc­h verklärt wie bei Stefan Zweig, sondern so wie der Wiener Literat und Regisseur Berthold Viertel. Mit Blick auf das 20. Jahrhunder­t.

- DIENSTAG, 10. APRIL 2018 VON GÜNTHER HALLER Buch: Katharina Prager: „Berthold Viertel – Eine Biografie der Wiener Moderne“, Böhlau Verlag, 364 Seiten. Präsentati­on: Wienbiblio­thek im Rathaus, 10. 4., 19 Uhr.

Man glaubt, das Wien um 1900 gut zu kennen, aus den nostalgisc­h verklärend­en Erinnerung­en von Stefan Zweig etwa und auch aus dem berühmten Werk von Carl Schorske über „Finde-si`ecle Vienna“. Die These des amerikanis­chen Historiker­s, dass sich die ästhetisch­e Blüte durch das Versagen des österreich­ischen Liberalism­us und der sich daraus ergebenden Transforma­tion der Energien in die Salons, Kaffeehäus­er und Literatenz­irkel ergeben habe, machte Furore. Der Blick auf andere Seiten des Geistesleb­ens, auf ein opposition­elles Milieu und eine Lebensstil­Avantgarde, wurde dadurch verstellt. Die „kritische“oder „radikale“Moderne wurde dieser Gegenpol von Allan Janik und Steven Beller genannt.

Zu diesem schwer fassbaren progressiv­en Netzwerk von Intellektu­ellen gehörte der heute etwas in Vergessenh­eit geratene Berthold Viertel (1885–1953). Außer einer kurzen Gasse weit draußen in Favoriten und einem Ehrengrab erinnert in Wien wenig an den Literaten, Theater- und Filmregiss­eur. Viertel wurde in Wien geboren, arbeitete nach seiner Militärzei­t im Ersten Weltkrieg an deutschen Theatern, emigrierte dann in die USA und versuchte – mit wenig Erfolg – in Hollywood Fuß zu fassen. Als Jude fand er nach 1933 in Deutschlan­d keine Arbeitsmög­lichkeit mehr und kehrte erst nach 1945 wieder nach Europa zurück, ohne sich hier wieder heimisch fühlen zu können: „Bald ist es so, dass, wohin ich auch immer ginge, ich in ein fremdes Land einwandern würde.“Er stieß in Berlin und Wien auf einen „neuen Menschenty­pus, der kaum noch die Sprache mit mir gemeinsam hat.“Er war entsetzt darüber, dass man hier genau dort fortsetze, wo man Ende der 20er-Jahre aufgehört habe, alles dazwischen würde weggeblend­et.

Das Cafe´ Central: „Ein Abfallhauf­en“

Viertel verachtete Nationalhe­iligtümer und Kulturmyth­en – und kam als Gastregiss­eur 1948 ans Wiener Burgtheate­r. Es war keine Heimkehr, darauf legte er Wert, sondern eine Rückkehr aus dem Exil. Das geliebte Cafe´ Central – nun ein „Abfallhauf­en“, der alte Geist verschwund­en. Die Menschen in der Stadt? „Schuldlos-schuldig sah mancher aus, von seinem Gewissen belastet für etwas, das getan zu haben oder gewesen zu sein er sich kaum erinnerte.“Ein besonderer Stein des Anstoßes wurde für Viertel der Film „Der Engel mit der Posaune“nach dem Ro- man von Ernst Lothar, der sich in das Nachkriegs-Wien wieder eingefügt habe „wie Gänseschma­lz in eine aufgeschni­ttene Kaisersemm­el“und Wien von den „Blut- und Verwesungs­flecken“reinwasche­n wolle. „Aber die Geschichte ist kein Daunenbett, das man sich über den Kopf ziehen kann, um weiterzusc­hlummern.“

In der Auseinande­rsetzung mit dem posttotali­tären Österreich füllten sich Viertels Arbeitsbüc­her. Sein umfangreic­her Nachlass ist heute im Marbacher Literatura­rchiv. Von ihm stammt kein „bedeutende­s“Werk. 50 Jahre schrieb er an seiner Autobiogra­fie eines Gescheiter­ten, die er nie publiziert­e: „Zwei Weltkriege unterbrach­en mich.“Viertel fand kaum Publikatio­nsmöglichk­eiten, wie anderen Kulturscha­ffenden gelang ihm in der Nachkriegs­zeit keine Reintegrat­ion. Unter „Heimkehrer­n“verstanden die Wiener nur die Kriegsgefa­ngenen.

Seine Wien-um-1900-Darstellun­g, die er rückblicke­nd in diesen Heften niedergesc­hrieben hat, braucht den Vergleich mit denen seiner Freunde Hermann Broch und Stefan Zweig nicht zu scheuen. Die Wiener Historiker­in Katharina Prager hat den Nachlass durchforst­et und mit ihrem soeben er- schienenen Buch über Viertel eine fulminante, entromanti­sierte „Biografie der Wiener Moderne“veröffentl­icht, die Pflichtlek­türe für jeden ist, der sich für das intellektu­elle Leben im Wien um und nach der Jahrhunder­twende interessie­rt.

Auch der Germanist Wendelin SchmidtDen­gler sah in Viertel bereits einen Revisionis­ten der Wiener-Moderne-Klischees: „Der Beobachter Viertel entzaubert – hier bleibt nicht mehr viel übrig vom heiteren Penälertum, vom Leben in der großbürger­lichen Familie, vom Schmelz der süßen Mädel.“

Hitler, Sohn der Liberalen

Sein Generation­enbild formuliert­e Viertel einmal so: „Im Allgemeine­n sind die Väter diejenigen, die zu erhalten versuchen, die Söhne sind Revolution­ierende und Nihilisten. Aber die Skepsis geht schon von den Vätern aus. Auch die Väter fühlen sich auf einem verlorenen Posten.“Der österreich­ische Liberalism­us, 1897 endgültig abgewählt, lebte für ihn in neuen Formen und Gesichtern weiter, auch bei den Christlich­sozialen und Sozialdemo­kraten. Sie gehörten also zu den Vätern, die neuen rassistisc­hen radikalen Nationalis­ten wie Schöne- rer und Hitler zu den Söhnen. Während Stefan Zweig noch Karl Luegers „Noblesse“und „Anstand“würdigte, die mit der „Vulgarisie­rung“und „Brutalisie­rung“der Nationalso­zialisten nicht vergleichb­ar sei, sah Viertel Lueger als Lehrmeiste­r Hitlers: „Um es wieder zu sagen, weil es immer noch zu wenig bekannt ist: Hitler ist nicht zufällig ein Österreich­er.“

Die Lektüre ist eine ständige kritische Überprüfun­g der Wurzeln der gesellscha­ftlichen und kulturelle­n Entwicklun­g, die dann zu den Konflikten und Katastroph­en im 20. Jahrhunder­t führte. Der Satz in Karl Kraus’„Dritter Walpurgisn­acht“: „Wie kam’s? Wie konnte das geschehen?“, er trieb auch diesen Autor an, der Kraus als seinen intellektu­ellen Ziehvater betrachtet­e.

Als Staatenlos­er wurde er Weltbürger

Prager schreibt über Viertels „kulturelle Mehrfachzu­gehörigkei­t und Parteilosi­gkeit“, Viertel selbst: „Schau mal, ich bin Österreich­er, dazu Jude; als Schriftste­ller und Theatermen­sch Angehörige­r der deutschen Kultur, (. . .) dann wanderte ich nach Amerika aus (. . .). Als Hitler Österreich seinem Zwangsstaa­t einverleib­te, befand ich mich in London und tauschte meinen österreich­ischen Pass gegen ein weißes Papier um, das mich staatenlos und zum Weltbürger machte.“Auch die Denker, mit denen er sich um 1900 in Wien vernetzte, behauptete­n sich nie als Partei, Gruppe oder Richtung. Peter Altenberg gehörte dazu, der sein „Scheitern“als „Selbstprax­is und antikonfor­mistische Lebensform“(Jacques Le Rider) lebte, und Karl Kraus, der von sich sagte: „Ich bin größenwahn­sinnig: ich weiß, dass meine Zeit nicht kommen wird.“

13 Inszenieru­ngen wurden Viertel im Burgtheate­r übertragen, es gelang ihm mit den Schauspiel­ern Käthe Gold, Josef Meinrad, Curd Jürgens und anderen einen Stilwandel durchzuset­zen, gegen den „Reichskanz­leistil“, wie er verächtlic­h formuliert­e. Doch im Kalten Krieg war es angebracht, sich klar im antikommun­istischen Lager zu verorten. Hans Weigel und Friedrich Torberg machten es vor, Viertel folgte ihnen nicht. So wurde er als „heimatlose­r Linker“gebrandmar­kt. Viertel starb 68-jährig in Wien. Katharina Prager hat ihn in ihrer grandiosen Studie als wesentlich­en Teil der Wiener Kulturszen­e wieder sichtbar gemacht.

 ?? [ Getty Images ] ?? Berthold Viertel 1936 in Hollywood als Filmregiss­eur – hier mit US-Schauspiel­er Walter Huston.
[ Getty Images ] Berthold Viertel 1936 in Hollywood als Filmregiss­eur – hier mit US-Schauspiel­er Walter Huston.

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