„So ist unser zukünftiges Vaterland“
1918. Tagebücher, Erinnerungen, Briefe: Sie vermitteln durch ihre Unmittelbarkeit anschaulicher als jede historische Darstellung, was die Österreicher 1918 empfanden.
Nicht leicht zu verdauen“war für den General aus hochadeligem Haus, was sich im Oktober 1918 abzeichnete. Nämlich die Errichtung eines deutschösterreichischen Staates auf demokratischer Grundlage. „Wer jetzt noch existieren will, muss in allen seinen Begriffen umlernen“, schrieb er, Fürst Alois Schönburg-Hartenstein, Kommandant der 6. Armee an der Italienfront und einer der reichsten Männer der Monarchie, in seinem Brief vom 24. Oktober 1918 an seine Frau Johanna. Er nimmt sich in all seinen Privatbriefen aus der Kriegszeit kein Blatt vor den Mund. So überrascht etwa, was er im November 1914 schrieb, als er der zahlenmäßig überlegenen russischen Armee gegenüberstand. Schon nach wenigen Monaten war die Kriegsbegeisterung verflogen, nicht nur bei den einfachen Soldaten, sondern auch bei einem hohen Offizier wie ihm, der sich angesichts der Strapazen und des Grauens an der Front im Stich gelassen fühlte: „Wenn ich sehe, wie meine armen Landesschützen geschunden werden, oft nutzlos, durch Verluste geschwächt, dann steigt Ärger in mir auf.“
Die Kriegsmüdigkeit erschien ihm im Verlauf des Krieges immer mehr als größtes Übel, in einem verzweifelten Rundumschlag kämpfte er dagegen an, er verurteilte den Defätismus des Hinterlandes, die Sozialdemokraten, die Wucherer, den Mangel an Patriotismus, und musste zugleich mitansehen, wie es auch für ihn immer schwieriger wurde, seine Untergebenen unter Kontrolle zu halten. Bis zu den Auflösungserscheinungen im Oktober 1918 und dem, was sich für die Zukunft abzeichnete; „Das sind wir, das ist unser zukünftiges Vaterland . . . Um nicht in den vollständigen Abgrund zu stürzen, muss ich meinen vollsten Optimismus zusammennehmen und hoffen und glauben.“
Seine Frau hatte den Plan, einen Teil der Kriegsanleihen der Familie zu verkaufen und das Geld in der Schweiz anzulegen. Er war dagegen, er habe noch Vertrauen in den Bestand von Österreich. Doch sein Gottvertrauen nützte nichts, am Tag, als er diesen Brief schrieb, begann die dritte PiaveSchlacht und die militärische Katastrophe.
Das Konvolut an Briefen, die SchönburgHartenstein schrieb, lag bis heute im Familienarchiv und blieb unveröffentlicht. Die Historikerin Gudula Walterskirchen, zu deren Spezialgebieten auch die Geschichte des österreichischen Adels zählt, hat Zugang erhalten und in ihrem neuen Buch Auszüge daraus präsentiert und kommentiert. Sie ließ es freilich nicht bewenden mit der Perspektive von der Spitze der gesellschaftli- chen Hierarchie. Erschütternd die Erinnerungen des einfachen Soldaten Robert Bäck an seine grauenhaften Kampferlebnisse am Monte Cimone bei Rovereto: Hier wurde, wenn die Munition ausging, schon auch einmal mit Messern und bloßen Fäusten gegen den italienischen Feind gekämpft.
Brief- und Tagebuchdokumente sind wegen ihrer Offenheit besonders berührend, Erfahrungen von Krieg und Niederlage lesen sich in diesen Quellen ganz anders, als sie sonst in der Öffentlichkeit vermittelt werden. Sie sind eine wertvolle Ergänzung zu den analytisch sezierenden Texten der Historiker, sie sind in ihrer Subjektivität „warm“sowohl in den traurigen als auch in den schönen Momenten des Erlebens. Es wird deutlich, was die Geschichte mit den Menschen machte.
Dramatisch sind die Berichte, die Walterskirchen präsentiert, über die Verletzung der Intimsphäre von Frauen, die als Hilfskräfte im Frontgebiet dienten. Meist wurden die Vorfälle, Belästigung und Vergewaltigung durch Offiziere und einfache Soldaten, vertuscht, weil sie ein schlechtes Licht auf die Armee geworfen hätten. Wenn etwas publik wurde, gab man die Schuld ohnehin den Frauen. Die „leichtlebigen“Personen hätten den sexuellen Kontakt von sich aus gesucht, um Vorteile zu erlangen. Viele Frauen leisteten als Krankenschwestern und Pflegerinnen in Feldspitälern und Lazaretten Unglaubliches, wie Marianne Jarka aus Gloggnitz an der Isonzo-Front: „Bis zu meinem letzten Atemzug werden mich die zerfetzten Leiber verfolgen.“
Richard Ruffingshofer wurde 1904 in Klosterneuburg geboren und führte als Kind mit 13 und 14 Jahren sein Kriegstagebuch. Ihn beschäftigten natürlich auch das Leopoldifest und seine Schulnoten und manche Enttäuschung, die er erleben musste, etwa am 2. Dezember 1917: „Heute ist mein Geburtstag. Alle haben darauf vergessen. Ich erwähnte auch kein Wort davon, denn ich will nicht haben, dass sie mir etwas kaufen, jetzt, wo man nicht weiß, wo man das Geld hernehmen soll!“Er kommentierte aber auch das, was er vom Krieg erfuhr, nicht immer konnte er Propaganda und Realität unterscheiden. Ende August 1918 fuhr Richard mit dem Zug auf „Hamsterreise“ins Umland, um bei den Bauern um Erdäpfel und Eier zu bitten: „Am Bahnsteig standen die Leute Kopf an Kopf.“Im Zug war dann alles voll. „Bei den Fenstern kriechen die Leute hinein. Endlich stiegen wir in einen Viehwagen.“Er erhielt ein paar Eier und kehrte todmüde wieder zurück: „An diese Beutereise denke ich mein Leben lang.“
Mitglieder der Oberschicht wie Graf Botho Coreth empfanden das Ende der Monarchie als Verlust ihres Vaterlandes, sie waren völlig verstört und stürzten zum Teil in eine tiefe persönliche Krise. Botho Coreth begann mit seiner Einheit den 700 Kilometer langen chaotischen Rückzug Ende Oktober von Ragusa: „Unser Weg in die Heimat war länger geworden! Erst in Kärnten oder in der Steiermark sollten wir wieder in Österreich sein. Mit solchen Gedanken marschierten wir weiter. Schritt für Schritt. Mit dem bedrückenden Wissen, dass alles vergeblich gewesen war . . . Nur nicht in diesem Chaos liegen bleiben!“„Nach Hause, nach Hause“, monoton immer nur der eine Gedanke.
Manche jubelten, einfache Leute, die während der Kriegswirtschaft gehungert und wie Zwangsarbeiter geschuftet hatten. So der Metallarbeiter Hubert Traxler aus Niederösterreich, der Anfang November in sein Tagebuch schrieb: „Krieg aus! Nieder mit dem Kaisertum! Ein Hoch der deutschösterreichischen Republik!“Je nach Stand, Klasse, Besitz und politischer Einstellung reagierte man ganz verschieden auf den Umsturz der Verhältnisse. Das Gesamtbild, das die Dokumente, die die Historikerin gesammelt hat, bieten, spiegelt auch die Zerrissenheit der Gesellschaft wider.
Für Graf Coreth wurde die Heimat zur Fremde, doch nicht alle stürzten in eine derart tiefe Depression. Alois Schönburg-Hartenstein, der durch die Abtrennung der Tschechoslowakei und die wertlos gewordenen Kriegsanleihen einen erheblichen Teil seines Vermögens verloren hatte, fasste wieder Mut. Er wollte das Beste aus all dem machen: „Mein Vaterland war zertrümmert, ein Teil meines Vermögens verloren gegangen. Meine Tatkraft hatte ich jedoch nicht eingebüßt und ich fühlte mich fähig, trotz meiner 60 Jahre von Frischem anzufangen.“Er wollte seinen „in Unordnung geratenen Schlaf“durch einen Neubeginn wiederfinden.