Leitartikel von Christian Ultsch: In der syrischen Giftgaskrise schlägt wieder die Stunde der Heuchler
Das Massensterben in Syrien interessiert keinen mehr. Aber wenn die USA einen Chemiewaffenangriff vergelten wollen, sind alle furchtbar aufgeregt.
D ie Kombination aus zynischer Heuchelei, schamloser Ignoranz und schwindelerregend unprofessioneller Verantwortungslosigkeit der sogenannten internationalen Gemeinschaft im Umgang mit Syrien ist kaum noch zu ertragen. Auf einmal schauen wieder alle hin, weil ein irrlichternder US-Präsident nach einem mutmaßlichen Chlorgasangriff, dem in der syrischen Stadt Duma knapp 50 Menschen zum Opfer gefallen sein sollen, einen Vergeltungsschlag erwägt. Da machen dann gleich Weltuntergangsszenarien die Runde. Das reale tägliche Massensterben davor hat hingegen kaum noch jemanden interessiert. Eine halbe Million Tote, mehr als fünf Millionen Flüchtlinge und sechs Millionen Binnenvertriebene? Was soll’s! Sieben Jahre Bürgerkrieg in Syrien haben abgestumpft.
Umso aufgeregter wird nun debattiert, ob vom syrischen Schlachtfeld ein dritter Weltkrieg ausgeht, eine Konfrontation zwischen den Atommächten Russland und USA. Trump selbst hat diese Befürchtungen mit einem seiner törichten Tweets befeuert. „Mach dich bereit, Russland“tippte der US-Präsident in sein Smartphone, das er zum Wohle der Menschheit besser irgendwo auf dem Grund des Potomac River vergraben lassen sollte.
Inzwischen ist er zurückgerudert. Die 24 bis 48 Stunden, in denen Trump über einen Militärschlag entscheiden wollte, sind verstrichen. Vielleicht ist ihm gedämmert, dass die US-Streitkräfte noch nicht so weit sind. Vielleicht will er abwarten, bis Experten der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) von ihrer Syrien-Mission zurückgekehrt sind. Jedenfalls hieß es zuletzt in Washington nur noch, alle Optionen lägen auf dem Tisch.
Unberechenbar dürfte Trump mittlerweile vor allem für sich selbst geworden sein. Entgegen seinem Vorsatz, Gegner nie vorzuwarnen, gab er Syrien ausreichend Zeit, sich auf einen Angriff vorzubereiten. Russlands Empörung über den bevorstehenden US-Militärschlag trägt indes den Makel der Unaufrichtigkeit. Denn Moskau hat im UN-Sicherheitsrat eine umfassende Untersuchung des Chlorgaseinsatzes auf die Stadt Duma samt Klärung der Urheberschaft blockiert. Umso hohler klingt es nun, wenn Russlands Außenminister, Sergej Lawrow, behauptet, ein ausländischer Geheimdienst habe den Chemieangriff inszeniert. Soll er doch seine „unwiderlegbaren Bewiese vorlegen“, anstatt Nebelkerzen anzuzünden. Umgekehrt täten die USA gut daran, die Einschätzung der OPCW-Fachleute abzuwarten, bevor sie schießen.
Trump hat schon einmal, vor einem Jahr, 59 Marschflugkörper losgeschickt, um Syriens Regime für einen Giftgasangriff zu bestrafen. Die US-Attacke war damals auf ein Militärflugfeld beschränkt, die Abschreckung offenbar nicht sehr wirkungsvoll. Die Amerikaner würden nun vermutlich die Dosis erhöhen, jedoch peinlich darauf achten, den Russen nicht in die Quere zu kommen und die Militäraktion zu begrenzen.
Auch die von Russland propagandistisch beförderte Angst, ein US-Militärschlag könnte eine neue Flüchtlingswelle auslösen, ist maßlos übertrieben. Wenn jemand, außer den syrischen Bürgerkriegsparteien selbst, massenhaft Syrer in die Flucht getrieben hat, dann waren das die Russen mit ihren Flächenbombardements in Aleppo. L etztlich wird Trump seinen Drohungen wohl Taten folgen lassen, um der internationalen Ächtung von Chemiewaffen Geltung zu verschaffen. Das ist ein guter Grund. Dennoch bleibt die Militäraktion risikobehaftet und wird am Lauf des Bürgerkriegs kaum etwas ändern. „Wir werden Syrien bald verlassen. Sollen sich andere Leute darum kümmern“, sagte Trump unlängst. Die anderen Leute, das sind Assads Regime, Russland und der Iran, auf der anderen Seite die von der Türkei und den Golfstaaten am Leben erhaltenen islamistischen Oppositionsgruppen. Der Westen hat sich ausgeklinkt und außer der Rolle des Wächters übers Chemiewaffenverbot nicht viel zu bieten. Frankreichs Präsident und die britische Premierministerin geben dabei Trumps Hilfssheriffs. Der Rest Europas schläft oder fürchtet sich vor der nächsten Flüchtlingswelle.
Das ist zu wenig, um den Bürgerkrieg in Syrien zu stoppen.